Fatma al-Kilani läuft schnell in den Raum, sieht sich kurz um und bleibt mit ihren Blicken an ihrem Sohn Saleh hängen. Sie murmelt schnelle, kaum verständliche Worte. Plötzlich fragt sie mit klarer Stimme: „Saleh, hast du sie gefunden?“ Als er ihr keine Antwort gibt außer einem verlegenen, entschuldigenden Lächeln, beginnt sie wieder zu murmeln und durch das Haus zu wandern. Sie kann nicht still sitzen. Ihr jüngerer Sohn Ibrahim war genauso.
Keine Sorge. Das ist für uns Routine.
11 Menschen getötetDas Leben in Gaza war schon immer vom Krieg geprägt, sagt Saleh, wenn er sich an seine Kindheit erinnert. Als die Flugzeuge in den 1960er Jahren über ihre Köpfe flogen, rannten er und seine Freunde in die nächste Obstplantage. Die Kinder versteckten sich unter den Bäumen, sahen durch die Blätter zum Himmel hoch und pflückten süße Feigen von den tiefhängenden Ästen, während sie darauf warteten, dass die Flugzeuge abdrehen würden. Aber seit 1967 hat sich so viel verändert, auch die zerstörerische Macht der israelischen Luftwaffe, die heute topaktuelle Technologien besitzt, die sie an den Bewohnern Gazas testet. Die Obstplantagen, in denen sich die Kinder von Beit Lahiya versteckten, der Stadt im nördlichen Gazastreifen in dem auch Familie al-Kilani lebt, wurden durch viele Häuser verdrängt. Der nahe Friedhof, auf dem es einst nur wenige Gräber gab, ist voll mit Gräbern von ganzen Familien, die während der israelischen Angriffe 2014 ums Leben kamen. Saleh kommt oft hier vorbei.
Im Wohnzimmer sitzend, versunken in Kindheitserinnerungen, denkt Saleh an seinen Bruder Ibrahim. Der Junge war schon als ganz Kleiner besessen von Architektur. Er skizzierte Gebäude auf jede leere Oberfläche, die er finden konnte, am liebsten an die Wand der Schule. Ibrahim der Architekt: auf ihn war die Familie stolz. Seine Mutter Fatma und sein großer Bruder Saleh scheuten keine Mühe, ihm den Erfolg zu ermöglichen. Der Vater starb wurde nur 40 Jahre alt, er starb an Krebs. Daran hätte die Familie zerbrechen können. Doch es schweißte sie enger zusammen. Fatma nahm Arbeit auf einem Bauernhof in Israel an, nahe des Grenzübergangs Erez, damit sie jeden Tag hingehen und abends wieder zu den Kindern zurückkommen konnte. Saleh, der Älteste in der Familie, fühlte sich für die jüngeren Geschwister verantwortlich, besonders für Ibrahim. Er hätte auch gerne Architektur studiert, aber er konnte seine Mutter und die Kinder nicht zurücklassen. „Ohne mich wäre die Familie auseinandergebrochen“ sagt er. „Wir entschieden, dass Ibrahim ins Ausland gehen sollte, um Architektur zu studieren. Er war intelligent, talentiert und leidenschaftlich. Er sollte studieren und wir würden hier bleiben und arbeiten, um ihm mit dem Studium zu helfen.“
Ibrahim blieb 20 Jahre in Deutschland, machte seinen Universitätsabschluss und gründete eine Familie mit Kristina, einer Deutschen. Sie bekamen zwei Kinder: Ramsis und Layla. Im Jahr 1995, als Ramsis vier und Layla zwei Jahre alt waren, besuchten sie alle gemeinsam Gaza. Einige Jahre später scheiterte die Ehe von Ibrahim und Kristina. Ibrahim zog alleine zurück nach Gaza. Anfangs war es schwer für ihn, er war deprimiert. Doch nach einigen Jahren heiratete er Taghrid und sein neues Leben erfüllte ihn. Sie hatten fünf kleine Kinder: Elias, Yasser, Sawsan, Yassin und Rim. Doch er vermisste Ramsis und Layla noch immer. Die Familie lebte im zweiten Stock, über der Wohnung von Ibrahims Mutter. Sie hatten das Elternhaus über die Jahre ausgebaut, um Ibrahim nach seiner Rückkehr aus Deutschland unterzubringen.
Als Ibrahim sich wieder in seinem neuen/alten Leben im Gazastreifen eingerichtet hatte, versuchte er die Zeit aufzuholen, die er weit weg von seinen Geschwistern verbracht hatte. Abends, nach einem langen Arbeitstag, saßen Saleh und Ibrahim oft zusammen und redeten. Manchmal zuhause, manchmal auf der Straße, im Sommer am liebsten am Strand. Wo sie auch saßen, sie sahen sich um und unterhielten sich darüber, was man anders machen könnte, wie man ein Design verbessern könnte, was eine praktischere Lösung beim Bau gewesen wäre. Während dieser nächtlichen Gespräche vergaßen die Brüder Kilani oft die Zeit.
Alees andere als sicher
Als die israelische Offensive im Sommer 2014 begann, entschieden die meisten Mitglieder der Familie Kilani, in ihren Häusern zu bleiben. Mitte Juli warfen israelische Flugzeuge Flugblätter über Beit Lahiya ab und ordneten an, man solle nach Gaza City evakuieren. Die Armee plane schwere in der Gegend. Die Familie Kilani gehörte zu den etwa 100 000 Palästinensern in dem Gebiet im Norden des Gazastreifens, die gehen sollten. Ibrahim, Taghrid und ihre Kinder gingen, alle anderen wollten bleiben. Fatma und Saleh, der nur fünf Minuten entfernt lebte, versuchten vergeblich, Ibrahim umzustimmen.
Sie gingen zu Taghrids Familie, den Dirbas in Shuja’iyya, einem Vorort im Osten Gaza Stadts – in der Hoffnung, dort sei es sicherer. Doch in der Nacht, in der die Kilanis ankamen, war es alles andere als sicher. Das israelische Militär warf einhundert je eine Tonne schwere Bomben ab und beschoss die Gegend mit 7000 Artilleriegranaten. Shuja’iyya wurde nahezu dem Erdboden gleichgemacht, Dutzende Menschen starben, hunderte wurden verletzt. Nach nur einer Nacht hatten Ibrahim und Taghrid keine andere Wahl, als weiterzuziehen. Genau wie die Dirbas, die sich in mehrere kleine Gruppen aufteilen wollten. Taghrids drei Schwestern Aida, Inas und Soura, sowie ihr frisch verheirateter Bruder Mahmoud, gingen mit den Kilanis.
Als die israelische Offensive im Sommer 2014 begann, entschieden die meisten Mitglieder der Familie Kilani, in ihren Häusern zu bleiben. Mitte Juli warfen israelische Flugzeuge Flugblätter über Beit Lahiya ab und ordneten an, man solle nach Gaza City evakuieren. Die Armee plane schwere in der Gegend. Die Familie Kilani gehörte zu den etwa 100 000 Palästinensern in dem Gebiet im Norden des Gazastreifens, die gehen sollten. Ibrahim, Taghrid und ihre Kinder gingen, alle anderen wollten bleiben. Fatma und Saleh, der nur fünf Minuten entfernt lebte, versuchten vergeblich, Ibrahim umzustimmen.
Sie gingen zu Taghrids Familie, den Dirbas in Shuja’iyya, einem Vorort im Osten Gaza Stadts – in der Hoffnung, dort sei es sicherer. Doch in der Nacht, in der die Kilanis ankamen, war es alles andere als sicher. Das israelische Militär warf einhundert je eine Tonne schwere Bomben ab und beschoss die Gegend mit 7000 Artilleriegranaten. Shuja’iyya wurde nahezu dem Erdboden gleichgemacht, Dutzende Menschen starben, hunderte wurden verletzt. Nach nur einer Nacht hatten Ibrahim und Taghrid keine andere Wahl, als weiterzuziehen. Genau wie die Dirbas, die sich in mehrere kleine Gruppen aufteilen wollten. Taghrids drei Schwestern Aida, Inas und Soura, sowie ihr frisch verheirateter Bruder Mahmoud, gingen mit den Kilanis.
Ein Freund Ibrahims bot ihnen Unterschlupf in den Büros einer Ingenieurgemeinschaft in einem Hochhaus im Zentrum Gazas an[1]. Andere Familien lebten dort bereits. Die Schulen der UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, englisch : United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, kurz: UNRWA) die als vorübergehende Lager für Obdach suchende Palästinenser dienten, waren voll. Die Flüchtenden aus Shujai’iyya suchten Unterschlupf in Parks, Kirchen, Krankenhäusern, Supermärkten, Büros und Werkstätten; ob mit oder ohne Dach, Hauptsache weg vom Osten des Gazastreifens.
Am Sonntagnachmittag, als sie sich im Ingenieurbüro eingerichtet hatten, rief Ibrahim seine Familie in Deutschland an. Monate später, als sich Ramsis an das Gespräch erinnert, sagt er, der schwarze Humor seines Vaters, eine typisch palästinensische Charaktereigenschaft um mit den Härten der Realität umzugehen, hätten es ihm schwer gemacht, den Ernst der Situation zu verstehen. Es war so viele Jahre her, seit sie sich zuletzt gesehen hatten, es muss hart für ihn gewesen sein, sich den Gesichtsausdruck seines Vaters vorzustellen. „Wir sind endlich in Sicherheit. Keine Sorge, das ist für uns Routine.“ sagte Ibrahim, doch Ramsis fühlte sich verloren, ängstlich und hilflos.
Es war Ramadan, die Zeit der Familienbesuche, eine Tradition die trotz des Krieges aufrechterhalten wurde. In Beit Lahiya kamen Fatmas Kinder und Enkel zu Besuch. Saleh und seine Familie aßen das fastenbrechende Mahl, Iftar, und schalteten die Nachrichten ein. Sie hörten, dass ein israelischer Pilot ein Hochhaus im Stadtzentrum bombardiert hatte. Saleh erhaschte für einen Moment einen Blick auf den Hinterkopf eines Mädchens, das von einem Sanitäter getragen wurde. Ihr Pferdeschwanz sah vertraut aus. Er versuchte seinen Bruder Ibrahim anzurufen, aber keiner ging ans Telefon. Khadija, Fatmas Tochter, sah in den Nachrichten die Leiche eines Mannes, der in Stücke gerissen worden war und von der Stätte der Bombardierung weggetragen wurde. „Oh der arme Mann und seine Familie“ rief sie und stellte den Fernseher ab. Da klopfte es an der Tür. Es war ein Nachbar, in Tränen aufgelöst. „Ibrahim ist tot. Sie sind alle tot.“
Fatma entwich ein Schrei. Erst nur einer, dann eine ganze Flut. Sie jammerte, weinte und schrie stundenlang, bis sie einschlief. Sie wachte auf, unsicher, was real war. Menschen versammelten sich vor ihrem Haus und sie wusste nicht warum. Fatma ging heraus und sah Leichen, in weiße Tücher gehüllt, die zum Friedhof gebracht wurden. Neugierig folgte sie der Menge. Khadija und Saleh sagten ihr, es sei Zeit Abschied zu nehmen von Ibrahim, Taghrid und ihren fünf Kindern. Fatma schien es nicht zu verstehen. Sie ging zu einer der Leichen, zog das Tuch beiseite und sah ein verbranntes, entstelltes Gesicht. Sie wandte den Blick ab und verkündete „Das ist nicht mein Sohn. Mein Sohn ist noch in Gaza Stadt. Er lebt!“
[1] https://electronicintifada.net/content/photos-gazas-shattered-families/14197 – laut einiger Artikel , hier einer von Anne Paq selbst, handelt es sich um eine Wohnung, die er selbst gemietet hatte, Anm.d.Übers.
Den Tod verstecken
Ein Jahr nach dem Verlust ihres Sohnes, ihrer Schwiegertochter und ihrer fünf Enkel kommt Fatma aus dem Haus, eine winzige, 88 Jahre alte Frau, das Gesicht gegerbt von Jahren harter Arbeit. Fatmas Urenkel, der 2 Jahre alte Yamen, klettert in einen roten Jeep, der vor ihrem Haus parkt. Yamen’s Onkel Ibrahim fuhr in diesem Jeep immer die Kinder zum Strand. Sie streichelt über das Auto, will es küssen. Sie will alles küssen, was Ibrahim, seiner Frau oder ihren Kindern gehörte. Ihre eigenen Kinder, die ihren Schmerz sehen, haben die Tür zur oberen Wohnung verschlossen. Monatelang traute sich niemand, dort etwas anzurühren.
Nun, ein Jahr nachdem das Leben aus dieser Wohnung verschwunden ist, ein Jahr, in dem von oben kein Kinderlachen kam, ist alles von einer Staubschicht bedeckt. Taghrids Schrank, einst voller bunter Kleider, beherbergt nur noch eine Spinne und ihr Netz. Die Fotos von Layla und Ramsis, die einst am Kopfende von Ibrahims und Taghrids Bett standen sind fort. Der Garten, den Ibrahim auf dem Dach gepflanzt hatte, einst üppig und grün, ist voller verwelkter Topfpflanzen, nur die Kakteen haben überlebt. „Er liebte handwerkliche Tätigkeiten, er mochte es, Neues zu schaffen und es seiner Familie zu zeigen.“ erinnert sich Saleh, während er die toten Pflanzen betrachtet. Ein weiteres Beispiel von Ibrahims Handwerkskunst steht mitten im nun leeren Wohnzimmer, ein Lehmofen. „Im Winter feuerte Ibrahim ihn an, briet Fleisch darin und holte die ganze Familie her, um zusammen zu essen und die Wärme zu genießen, die er verbreitete.“ erklärt Saleh, während er an dem staubigen Ofen lehnt.
Ein Jahr nach dem Krieg, im August 2015, gab es in der Familie von Fatmas Nachbarn eine Hochzeit. Die Feiernden strömten in die engen Straßen der Nachbarschaft. Eine Gruppe kleiner Mädchen tanzte neben Fatmas Tür. Sie sah sie an und fragte nach ihren Enkeln: „Aber wo sind meine Mädchen?“ Sie versuchten, mitfühlend zu sein, sie logen und sagten zu der senilen alten Frau „Wir sind deine Mädchen“. Einen Moment lang wurde sie klar im Kopf, sah sie direkt an und sagte „Nein, seid ihr nicht. Meine Mädchen sind tot.“
Jedes Mal, wenn Saleh seine Mutter besucht, sagt sie zu ihm „Hol’ deinen Bruder. Wo sind Ibrahims Kinder?“ Und wenn die Erinnerung wieder einsetzt, wiederholt sie immer wieder „Ich habe ihnen gesagt, sie sollen nicht gehen, ich bat sie hierzubleiben.“
An der Wohnzimmerwand hatten die Kilanis ein Poster mit Bildern der Getöteten hängen. Es ist eine Tradition, man sieht es häufig in palästinensischen Haushalten. Doch jetzt hängt das Poster versteckt hinter einem Schrank. Saleh holt es für einen Moment heraus. „Meine Mutter konnte es sich nicht ansehen.“ erklärt er, und hängt es zurück bevor sie wiederkommt.
Menschen, die bei dem Angriff in Beit Lahiya ums Leben kamen
21 Juli 2014
- IBRAHIM DIB AL-KILANI 53
- TAGHRID SHA’BAN AL-KILANI 44, IBRAHIMS EHEFRAU
- RIM IBRAHIM AL-KILANI 11, IBRAHIMS UND TAGHRIDS TOCHTER
- SAWSAN IBRAHIM AL-KILANI 10, IBRAHIMS UND TAGHRIDS TOCHTER
- YASIN IBRAHIM AL-KILANI 9, IBRAHIMS UND TAGHRIDS SOHN
- YASSER IBRAHIM AL-KILANI 7, IBRAHIMS UND TAGHRIDS SOHN
- ELIAS IBRAHIM AL-KILANI 3, IBRAHIMS UND TAGHRIDS SOHN
- AIDA SHA’BAN MOHAMMED DIRBAS 47, TAGHRIDS SCHWESTER
- MAHMOUD SHA’BAN DIRBAS 37, TAGHRIDS BRUDER
- SOURA SHA’BAN DIRBAS 41, TAGHRIDS SCHWESTER
- INAS SHA’BAN DIRBAS 30, TAGHRIDS SCHWESTER