Buseina stellte den Teekessel auf den Ofen. Sie stand jeden Morgen noch vor dem Morgengebet auf, um Tee zu machen. Dampf stieg auf und der Geruch von Minze strömte aus dem Teekessel. Buseinas Ehemann Mustafa kam aus dem Badezimmer in die Küche. Die Handys funktionierten kaum, das Netz war ausgefallen. Strom gab es nur selten, aber das Radio war batteriebetrieben und lief in diesen Tagen verlässlich. „Gibt es Neuigkeiten?“ fragte er. „Sie haben das Haus von Familie al-Dalu getroffen,“ antwortete sie. Der Angriff sollte einem Kommandanten des militärischen Arms der Hamas gelten, Mohammed Deif, sagte die israelische Armee. Stattdessen tötete der israelische Pilot Deifs Frau und seinen sieben Monate alten Sohn, eine 48jährige Frau und ihre beiden Söhne. Fünfzehn Menschen wurden verletzt.
ICH WERDE MEINEM SCHICKSAL NICHT ENTGEHEN
8 Menschen getötetSeit Beginn des Krieges schlief Mustafa al-Louh, ein großer, dünner Mann von 61 Jahren in einer kleinen Hütte zwischen zwei Häusern. Auf der einen Seite stand das Haus seines Sohnes Rafa und dessen Familie. Auf der anderen Seite lebte Mustafas Frau und mit ihren Kindern. Am Tag zuvor endete eine fünftätige Feuerpause. Mustafa hatte das Gefühl, der Krieg näherte sich seinem Ende. Als der Muezzin von Dair al-Balah rief, stand er auf. Normalerweise wachte er vor dem Ruf zum Gebet auf, eine Angewohnheit, die sich in den Jahrzehnten seit seiner Jugend eingeschlichen hatte. Doch nach schlaflosen Wochen voller Stress und Angst war er einfach zu erschöpft.
Ein Stück weiter die sandige Straße runter, in einem Haus etwa 50 Meter entfernt, stand seine 19jährige Nichte Iman ebenfalls zum Gebet auf. Auch ihr fiel es schwer, zeitig aufzustehen. Iman ging viel durch den Kopf. Trotz des Krieges war sie mit ihrer Zukunft beschäftigt. Sie war sehr gut in der Schule und musste sich bald entscheiden, was sie studieren wollte. Sie überlegte, vielleicht Theologie zu wählen. Nach dem Ruf zum Gebet stand sie auf, ihre Schwestern beendeten bereits das Fadschr, das Gebet vor dem Sonnenaufgang. Ihre Mutter, die schon früher wach war, stellte das Radio an. Die Bombardierung des Hauses der al-Dalus war die neuste Nachricht.
Ahmed, Mustafas Sohn aus einer vorherigen Ehe, hatte bei Rafat übernachtet. Früh am Morgen mussten sie zu Arbeit gehen. Um 6 Uhr wollten sie bereits auf dem Weg zum Markt in Chan Yunis sein, um Wassermelonen zu kaufen, die sie dann nach Dair al-Balah zurückbringen würden. Den ganzen Sommer lang, trotz des Krieges, fuhren die Halbbrüder täglich die Salah al-Din Straße entlang, die den Gazastreifen der Länge nach durchquert. Meistens war die Straße menschenleer, es war zu gefährlich, sie zu befahren. Zurück in Dair al-Balah würden Rafat und Ahmed die Wassermelonen auf einen Karren laden, ihn durch die sandigen Straßen schieben und ihre Ankunft über Lautsprecher verkünden.
Rafat war Mitarbeiter der Palästinensischen Autonomiebehörde. Wie tausende andere Menschen im Gazastreifen, die bei der in Ramallah im Westjordanland angesiedelten Behörde arbeiteten, konnte er ab 2007 nicht mehr zur Arbeit gehen, nachdem die Hamas die Parlamentswahlen gewann und die Macht in Gaza übernahm. Sie behielten ihre mageren Gehälter, aber für Rafat war das nicht genug um seine Familie zu ernähren. Er hatte drei kleine Kinder. Zwei Jungen, den 10jährigen Mustafa, traditionell nach seinem Großvater benannt und den 7jährigen Maysara, sowie eine Tochter, die 6jährige Farah. Seine Frau Nabila war schwanger. Rafat musste einen Kredit aufnehmen. Sein Vater Mustafa machte sich Sorgen. Er bat Ahmed und Rafat, nicht nach Chan Yunis zu fahren, aber seine erwachsenen Söhne, einer mit eigener Familie, hörten nicht auf ihn. Sie waren auf der Straße noch nie zum Ziel geworden. Und die Rechnung, was gefährlicher wäre – zuhause bleiben oder fahren – war zu dieser Zeit in Gaza sowieso unkalkulierbar.
Mohammed, Rafats jüngerer Bruder, half ihnen oft beim Verkauf der Wassermelonen. Über den Sommer hatte er durch die Arbeit sogar etwas Geld zusammengespart. Doch die Blockade des Gazastreifens gab ihm das Gefühl zu Ersticken. Manchmal schien es, als habe er aufgegeben. Er weigerte sich zu heiraten. Er sagte, es mache keinen Sinn, er würde sowieso sterben. Seine Zwillingsschwester Walaa’ heiratete. Zum ersten Mal in ihrem Leben trennten sich ihre Wege. Walaa’ zog aus, um mit ihrem Ehemann ein neues Leben zu beginnen, Mohammed blieb zuhause. Wie gut die Hälfte der Bevölkerung Gazas war er meistens arbeitslos. Er verbrachte seine Tage damit, durch das Viertel zu laufen. Walaa’ schaute oft aus dem Fenster und sah ihren Zwillingsbruder auf der Straße. Sie würde ihm zurufen, „Komm’ hoch, lass’ uns einen Kaffee trinken!“ „Du weißt, dass ich zu faul bin in den dritten Stock zu kommen!“ war seine Antwort. Sie würde ob dieses kleinen Rituals lächeln und hinuntergehen, um mit ihrem Bruder im Hof zu sitzen.
Mit dem Geld, das er beim Wassermelonenverkauf verdient hatte, kaufte Mohammed sich ein neues Bett und einen Schrank für sein Zimmer. Während des ganzen Krieges hatte er auf einer Matratze im Flur des Hauses geschlafen – eine strategische Entscheidung, weit weg vom Fenster und von Häusern, die mögliche Ziele waren. Seine Mutter Buseina und seine Geschwister Wafaa’ und Momen schliefen auch dort. Nach der Feuerpause verlor er die Geduld und bestand darauf, sein neues Bett auszuprobieren. Kurz vor dem Schlafengehen flehte seine Mutter ihn an, bei ihnen im Flur zu bleiben. „Ich werde meinem Schicksal nicht entgehen, was es auch sein mag. Ich will sterben.“ sagte er und ging in sein Zimmer.
DER MORGEN DER BOMBARDIERUNG
Iman stand etwas zu spät für das Gebet auf. Sie stand mitten im Schlafzimmer, ihre Schwestern saßen um sie herum. Der Strom war ausgefallen, sie konnten sich kaum sehen. Mustafa und Buseina sprachen in ihrer Küche über das Schicksal der Familie al-Dalu. Mohammed schlief in seinem Zimmer und genoss sein neues Bett. Momen und Wafaa’ schliefen noch im Flur, weiter weg von der Straße und den anderen Häusern. Ahmed und Rafat wollten bald zu ihrer gefährlichen Fahrt aufbrechen, aber noch waren sie müde von der harten Arbeit und schliefen in dieser frühen Morgenstunden.
Ein israelischer Pilot warf eine 500kg-Bombe ab.
Eine Betonplatte flog durch das Fenster in das Zimmer, in dem Iman betete. Sie verfehlte den Kopf ihrer Schwester um Zentimeter und flog direkt auf sie zu. Sie starb einige Tage später im Krankenhaus. Mustafa und Buseina überlebten, weil sie früh aufgestanden waren. Wo die Hütte stand, in der Mohammed noch kurz zuvor geschlafen hatte, war nun ein tiefes Loch voller Trümmer. Sieben Lastwagen voller Sand reichten nicht, um den Krater zu füllen. Mohammed starb. Sein Zimmer lag nah am Einschlagsort der Bombe, eine einstürzende Wand begrub ihn. Momen und Wafaa’ wurden verletzt, aber sie überlebten.
Die Explosion war so stark, dass Menschen und Betonbrocken in alle Richtungen geschleudert wurden, auch kleine Kinder. Maysara wurde auf ein Dach geworfen, Mustafas auf einen Balkon. Farah flog hoch in einen Baum im Hof eines Nachbarn, dessen Äste brachen. In Rafats Haus kamen alle ums Leben: die Kinder, Nabila, Rafat und Ahmed. Die Bombe fiel direkt auf sie.
MÄRTYRER FÜR WEN?
Mustafa sagt, es gab keine Kämpfe in der Nähe ihres Hauses in Dair al-Balah. Keine anderen Häuser in der Nähe wurden beschossen. Keines der Familienmitglieder war Mitglied des Widerstandes, aber bei der Beerdigung wurden die Leichen der Getöteten in die grünen Flaggen der Hamas gehüllt. Ein Foto von Mohammed mit einer Waffe in der Hand hängt im Wohnzimmer der Mietwohnung, in der die Überlebenden der Familie al-Louh nun wohnen. Die Beerdigung der acht Toten war teuer. Während des Krieges überboten sich die beiden großen politischen Parteien, Fatah und Hamas darin, für die Beerdigungen der Opfer zu bezahlen. Wer die Familie überzeugen konnte, die Beerdigungskosten zu übernehmen, der bekam das Recht die Toten in ihre Flaggen zu hüllen, ein Poster zu drucken und sie als „ihre“ Märtyrer zu bezeichnen. Mustafa hatte nicht genug Geld um ein Zelt für die Trauergäste aufzustellen, Stühle zu mieten, Getränke anzubieten. „Der örtliche Fatah Abgeordnete war dafür bekannt, die Kosten zu übernehmen, aber immer auf Kredit, den er nie zurückzahlte. Am Ende hatte er so viele Schulden, das seine Partei sich weigerte ihn auszulösen und er aus dem Gazastreifen fliehen musste. Wir hatten keine Wahl: als die Hamas anbot, für die Beerdigung zu zahlen, mussten wir annehmen und sie ihre Flaggen aufziehen lassen.“ erklärt er. „Die Waffe in Mohammeds Hand? Jeder in Gaza hat so ein Foto.“ fügt er hinzu und zuckt die Schultern bei der Frage.
Menschen, die bei dem Angriff in Deir al-Balah ums Leben kamen
20 August 2014
- RAFAT MUSTAFA AL-LOUH 31
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- MUSTAFA RAFAT MUSTAFA AL-LOUH 9, RAFAT UND NABILAS SOHN
- MAYSARA RAFAT MUSTAFA AL-LOUH 8, RAFAT UND NABILAS SOHN
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