Vorwort

 von Raja Shehadeh

Der preisgekrönte schottische Dichter Don Paterson war noch nie in Gaza, doch aufgrund der Nachrichten von den israelischen Angriffen auf den Gazastreifen im Sommer 2014 befand er, dass er nicht still bleiben könne. Er schrieb ein Sonett über den israelischen Beschuss eines Jungen, der am Strand spielte. Das Sonett heißt The Foot, „der Fuß“ und beginnt mit der Zeile:

„Ich habe keine Worte, deshalb hier die nicht-Worte“.

Während dieses schrecklichen Sommers fehlten mir angesichts der unmenschlichen Bombardierung eines so dicht besiedelten Gebietes wie dem Gazastreifen oft die Worte. Doch Anne Paq und Ala Qandil fanden für diese Webdokumentation Worte und Bilder, die die Geschichten von zehn Familien erzählen, deren Leben die israelische Offensive 2014 zerstört hat.

Was wir aus Gaza und anderen vom Krieg zerstörten Gebieten dieser Erde hören sind meistens Zahlen und Fakten; die Nachrichten sind oft so grausam, dass wir abstumpfen und uns nicht länger vorstellen können wie es wohl ist, dort zu leben. Die Bedeutung dieses Projektes liegt darin, uns durch Wort und Bild das Leben und die Tragödien nahezubringen, wie die Familien in Gaza sie erleben. Es macht es uns Lesern und Zuschauern unmöglich uns dagegen abzugrenzen und nicht tief mitzuempfinden, was jene Menschen in diesem Sommer 2014 während der israelischen Bombardements durchmachten.

Wenn es darum geht, sich einem solchen Blutbad anzunähern gibt es einige, die eine Art pornographisches Interesse an dem Thema zeigen, Gefühlskälte, fehlendes Mitgefühl oder Voyeurismus. Das trifft vielleicht auch auf einige der israelischen Soldaten zu, die den Beschuss durchführten und von denen die Autorin einen sah, wie er lächelte, als er in Richtung des Ausgucks schoss, in dem sie stand. Es trifft aber sicher nicht auf die einfühlsam erzählten Berichte dieser Webdokumentation zu. Das Coverbild dieser Dokumentation wurde mit einem Weitwinkelobjektiv von einem erhöhten Standort aus gemacht. Es zeigt einen jungen Mann, umgeben von Teilen aus Metall, Holz, Porzellan, Zement und Stein. Es sind die Überreste dessen, was einst seine Fabrik war und sein Haus, in dem zwei seiner Brüder mit ihren Frauen und Kindern auf die Evakuierung warteten, als sie bombardiert wurden und wie Mauern, Möbel, persönliche Gegenstände und Fotos in Staub und Asche verwandelt wurden.

Es ist schon eine Tragödie, sein Heim und seinen Arbeitsplatz zu verlieren, doch ungleich schlimmer noch ist der Verlust seiner Lieben oder seiner gesamten Familie. Man denkt nicht oft an die Konsequenzen für den Überlebenden und seine Zukunft, nachdem er all seine Dokumente verloren hat: Geburtsurkunde, Besitzurkunden, Schul- und Universitätsabschlüsse, Gesundheitsdaten. Das betrifft viele Einwohner Gazas, deren Häuser bombardiert wurden. Stellen Sie sich vor wie es wäre, den Autoritäten nicht nachweisen zu können, was Sie in ihrer Vergangenheit gemacht haben, was ihre Existenz war. Es ist schwierig vorstellbar, wie man sein Leben nach so einem Verlust wieder aufbauen kann.

Und doch steht der junge Mann, dessen Leben zerstört wurde, aufrecht inmitten all dieser Zerstörung, er blickt auf, scheint vorangehen zu wollen, ein Symbol der legendären Widerstandsfähigkeit der Palästinenser im Gazastreifen.

Das sind die zwei Porträts von Hussein al-Najar, dessen Familie zu den zehn gehört, die hier vorgestellt werden. In keinem der beiden schaut er in die Kamera. In dem einen sieht er mit seinem gesunden Auge nach unten (das andere ist, wie sein Kopf, verbunden), in sich gekehrt, traurig, aber nicht nach Mitgefühl heischend. In dem anderen bedeckt er mit der linken Hand seinen Mund, als ob er nicht sprechen möchte; er will allein gelassen werden mit seinen Gedanken, wie verloren in seinen Worten, darüber nachdenkend, wie es dazu kommen konnte, zu diesem Horror, den Menschen anderen Menschen in ihrer direkten Nachbarschaft antun.

Uns wird erzählt, dass Hussein gerade betete, als sein Haus getroffen wurde. Er verlor das Bewusstsein. Als er seine Augen wieder öffnete erfuhr er, dass seine Frau, seine beiden Kinder und 16 weitere Mitglieder seiner Familie getötet wurden. Die Frage, die sich stellt ist: Wie kann jemand mit diesem Wissen weiterleben? Doch wenn man den Nachrichten aus dem Gazastreifen folgt weiß man, die Menschen dort tun genau das.

Vier Monate, nachdem dieses Bild aufgenommen wurde, kehrte Anne Paq nach Gaza zurück um Hussein zu besuchen und es ihm zu schenken. Doch er wollte es nicht denn, wie er ihr sagte: „Ich will mich an diesen Tag nicht erinnern.“ Seine Reaktion erschütterte ihr Bild von sich selbst als Rechercheurin und Dokumentarfilmerin; sie schreibt, dass sie sich schämte und sich selbst verfluchte. Sie fügt hinzu: „Ich hatte das Gefühl, für einen kurzen Moment das zerbrechliche Gleichgewicht verloren zu haben zwischen dem Zeigen der Tragödie und der Verstärkung des Leids der schon schwer geprüften Menschen. Jeder will Aussagen zu den Angriffen, ein Stück Intimität der Menschen, persönliche Details…“. Die Autorinnen dieser Dokumentation gehören nicht zu denen, die etwas nehmen wollen. Stattdessen geben sie den Menschen in Gaza viel. Diese Arbeit wird viele Betrachter zu Tränen rühren.

Raja Shehadeh

 

Einleitung von Amira Hass