Familie Al-Khalili Gaza Stadt

Leben und Sterben in Gaza: Weder normal, noch natürlich.

8 Menschen getötet

VOR 15 JAHREN

VIERTEL AL-TUFFAH, GAZA STADT

Im Viertel al-Tuffah, im Osten Gaza Stadts, verwandelt Mahmoud al-Khalili das Erdgeschoss seines Hauses in eine Werkstatt, die sich mit der Zeit zu einer kleinen Fabrik neben dem Haus entwickelt. Seine Söhne, Ashraf und Ahmed, arbeiten mit dem Vater zusammen und werden Mechaniker, spezialisiert auf importierte Maschinen aus Deutschland. Dem Familienunternehmen geht es gut, obwohl die israelische Besetzung und die Blockade der Wirtschaft der Region schwer zusetzen – inzwischen ist die Hälfte der Bevölkerung Gazas arbeitslos. Die Fabrik stellt einfache Teile aus Plastik und Holz her, beispielsweise Besenstiele. Alles leicht entzündlich.

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EIN HEISSER FREITAG NACHMITTAG

JUNI 2014, GAZA BEACH

Mahmounds Sohn lacht, und wenn der 37jährige Ashraf lacht, dann bebt sein ganzer Körper. Fast zwanghaft gastfreundlich wie alle Bewohner Gazas, fordert er seine Gäste auf, mehr von der Wassermelone zu essen und sucht ihnen selbst die süßesten und saftigsten Stücke heraus, bis das silberne Tablett leer ist.

 

Ashraf und seine Kindheitsfreunde aus al-Tuffah treffen sich jedes Wochenende in einem kleinen Häuschen am Strand von Gaza Stadt, wo sie Shisha rauchen, Karten spielen und sich über die Probleme zuhause unterhalten. Alle sind verheiratet und haben Kinder. Ashraf und seine Frau Nidaa’ haben drei Kinder zwischen drei und acht Jahren: Mahmoud, Dima und Ziyad. Ashraf ist ein stolzer Vater und Dima ist sein Augenstern wie er sagt. Sie ist ein aktives kleines Mädchen. Die Kinder bringen die Freude in das Haus über der Fabrik, in dem drei Generationen von al-Khalilis leben.

Es ist ein weiterer heißer Nachmittag in Gaza. Der Strand ist voll. Kinder spielen im Wasser. Familien grillen und picknicken, sie genießen den einzigen offenen Raum im Gazastreifen – das Meer, das einzige Fenster der Gefängniszelle, zu der dieser Streifen Land geworden ist. Sie wissen, dass die Offenheit des Meeres eine Illusion ist, sobald man sich drei oder vier Seemeilen von der Küste entfernt, kommt die israelische Küstenwache, nimmt einen fest und konfisziert das Boot. Ashraf und seine Freunde stellen sich an diesem Abend vor wie es wäre, an einem normalen Ort zu leben. Nicht belagert von den Israelis, nicht ständig in Sorge vor israelischen Bombardements, nicht regiert von einer konservativen Regierung. Wie fühlt es sich wohl an, frei zu sein? Eine Frage, die sich viele in der Enklave stellen.

8. Juli 2014

Israel startet eine Militäroperation unter dem Namen „Protective Edge“ – eine groß angelegte Offensive auf den Gazastreifen, zunächst mit Luftangriffen.

17. Juli 2014

Die israelische Armee beginnt die Bodenoffensive. Die östlichen Teile der Enklave sind von Artilleriefeuer bedroht – eine besonders ungenaue Waffe. Das Ziel eines Artilleriebeschusses ist ein Gebiet von etwa 50 mal 50 Metern. Landet die Granate in einem Radius von 100 Metern um das Ziel, wird das noch immer als Treffer bewertet. Der UN-Menschenrechtsrat folgerte in seinem Bericht, dass es aufgrund der Willkürlichkeit eines Artillerietreffers ein Bruch des internationalen Rechts sein kann, in dicht besiedelte Gebiete zu schießen  – das ist der Gazastreifen überall. Laut internationaler Rechtsprechung ist es verboten, Zivilisten direkt anzugreifen, es trotzdem zu tun, könnte als Kriegsverbrechen gewertet werden. Israel wird im Laufe dieses Sommers 35 000 Artilleriegranaten auf den Gazastreifen abfeuern.

29. Juli 2014

AL-TUFFAH

Die Nacht ist furchtbar. Bomben explodieren überall, der Familie al-Khalili wird bewusst, dass sie in al-Tuffah nicht mehr sicher ist.

30. Juli 2014

früher Morgen, al-Tuffah

Am Morgen versammelt Mahmoud seine Kinder und Enkel und schickt sie zu den Häusern Verwandter, die weiter von der israelischen Grenze entfernt wohnen. Es ist nahezu unmöglich, ein Auto zu finden, denn es herrscht großer Treibstoffmangel und die Fahrer kommen nur zögerlich in Viertel, die nahe an Kampfzonen liegen und unter Beschuss sind. Die al-Khalilis brauchen mehrere Wagen – sie müssen 30 Menschen evakuieren.

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09:30, Morgen des 30. Juli 2014

Mahmoud, seine Frau Nailah, ihre Tochter und drei Söhne steigen in ein Auto. Ashraf und sein jüngerer Bruder Ahmed mit ihren Familien sind die letzten, die auf die Abfahrt warten. Ahmeds Frau Aya ist schwanger, sie haben bereits eine fünfjährige Tochter namens Lama. „Fahrt so schnell es geht, haltet euch bereit, ins Auto zu springen, sobald es ankommt.“ Sagt Mahmoud zu seinen Söhnen, als er fährt. Die beiden Familien sitzen im Garten vor dem Haus und warten.

09:35, im Garten

Israelische Soldaten feuern zwei Panzergranaten. Sie explodieren im Garten, in dem Ashraf und Ahmed mit ihren Familien sitzen. Die Fabrik geht schnell in Flammen auf, das Feuer greift auf das Haus über. Der siebenjährige Mahmoud, Ashrafs Sohn, bleibt in dieser Zeit bei Bewusstsein, sowohl während der Explosion als auch, als das Feuer seine Familie umschlingt. Später im Krankenhaus wird er ins Koma fallen.

09:40, im Auto

Noch im Auto klingelt Mahmouds Handy. Es ist eine andere Tochter, die in al-Tuffah lebt und deren Familie noch nicht geflohen ist. Sie weint ins Telefon „Sie sind alle tot.“

Mittagszeit,

in der Leichenhalle des al-Shifa Krankenhauses, Gaza Stadt

Grüne Plastiksäcke sollen die verbrannten Leichen verstecken. Aber ein Arm, der unter dem Plastik herausragt, verrät den Zustand der Überreste der al-Khalilis. Ein anderer Plastiksack enthält drei Menschen, vermutlich Nida und ihre beiden Kinder, verbrannt, entstellt und miteinander verklebt. Ibrahim, der 18jährige Bruder Ashrafs und Ahmeds, soll die Leichen identifizieren. Er erkennt seine Familie nicht wieder.

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Mittagszeit, vor der Leichenhalle des al-Shifa Krankenhauses

Gaza Stadt

Ein weiterer al-Khalili Bruder, der 20jährige Ismail, weint voller Schmerz außerhalb der Leichenhalle des al-Shifa Krankenhauses in Gaza.

3. August 2014, Al-Arish, Ägypten

Mahmoud, der zur Behandlung nach Ägypten gebracht wird, stirbt an den Verbrennungen an seinem ganzen Körper, bevor er das Krankenhaus erreicht.

Einer der al-Khalili Brüder, der 20jährige Ismail, weint voller Schmerz vor der Leichenhalle des al-Shifa Krankenhauses in Gaza Stadt.

Einer der al-Khalili Brüder, der 20jährige Ismail, weint voller Schmerz vor der Leichenhalle des al-Shifa Krankenhauses in Gaza Stadt.

Mahmouds Zimmer.

Mahmouds Zimmer.

November 2014

Ibrahim, Ismail, ihre Eltern und andere Geschwister leben noch immer in dem teilweise verbrannten Haus, das jederzeit einstürzen könnte. Der Brandgeruch, die verschmorten Wände im Treppenhaus, das Geröll und die Asche im Garten erinnern sie ständig an die Tragödie. Die Zimmer der Getöteten bleiben unangetastet. Die al-Khalilis würden gerne weg, aber es sind nach der Offensive und durch den ewig alten Mangel an Häusern 100 000 Menschen obdachlos. Es ist schwer für sie, einen neuen Platz zum Leben zu finden und selbst wenn sie einen fänden, wäre er kaum zu bezahlen. Ohne einen Wiederaufbau in Gaza wird das nicht besser werden.
Die Fabrik ist vollständig zerstört. Sie war mehr als eine stabile Existenzgrundlage für die al-Khalilis und die 10 bis 20 Arbeiter, die sie angestellt hatten. Ihr ganzes Familienleben drehte sich um die Fabrik.

 Ibrahim, Ismail, ihre Eltern und andere Geschwister leben noch immer in dem teilweise verbrannten Haus, das jederzeit einstürzen könnte.

Ibrahim, Ismail, ihre Eltern und andere Geschwister leben noch immer in dem teilweise verbrannten Haus, das jederzeit einstürzen könnte.

Der Blick vom Dach auf den verbrannten Garten vor dem Haus der al-Khalilis.

Der Blick vom Dach auf den verbrannten Garten vor dem Haus der al-Khalilis.

 „Wie kommen wir zu unserem Recht?“ 
– FRAGT NAILAH AL-KHALILI, DIE ZWEI SÖHNE UND VIER ENKELKINDER BEI DEM ANGRIFF VERLOR.

„Wie kommen wir zu unserem Recht?“

– FRAGT NAILAH AL-KHALILI, DIE ZWEI SÖHNE UND VIER ENKELKINDER BEI DEM ANGRIFF VERLOR.

Der Traum vom normalen Leben

In dem Häuschen am Strand versuchten Ashraf und seine Freunde, sich im Juni vorzustellen wie ein normales Leben aussehen würde. Ashrafs überlebende Brüder Ibrahim und Ismail hätten auch gerne ein normales Leben in Aussicht. Ismail will nach Deutschland gehen, er glaubt nicht, dass Gaza in naher Zukunft Normalität zu bieten hat. Und Ibrahim fragt rhetorisch: „Glauben sie, die Menschen in Gaza wären Tiere? Wir sind auch Menschen! Und wir leben hier kein natürliches Leben.“

Er spricht über ein „natürliches“ Leben und vielleicht beruht die Wortwahl – natürlich statt normal – eher auf einem Fehler im Englisch einer Person mit rudimentären Sprachkenntnissen. Doch normal ist am Leben in Gaza nichts: zwei Drittel des Tages ohne Strom in der extremen Hitze oder Kälte zu verbringen ist nicht normal. Den Wasserhahn aufzudrehen um herauszufinden, ob Salzwasser herausläuft oder es gar kein Wasser gibt, ist auch nicht normal. Die kleine Enklave nie verlassen zu können und alle zwei Jahre aus der Luft, von Land und von See beschossen zu werden ist nicht normal; auch nicht, sein Land nicht bewirtschaften zu können oder fischen zu gehen, ohne zum Ziel israelischer Geschosse zu werden. Aber das Leben in Gaza ist nicht nur unnormal. Wie Ibrahim sagt: Es ist nicht natürlich. Die regelmäßig wiederkehrenden Zyklen israelischer Bombardements sind nicht natürlich. Das sture Beharren auf Überleben und Weiterleben derjenigen, deren Familien getötet wurden, es ist nicht natürlich. Die Gastfreundschaft und Offenheit der Bewohner Gazas, so isoliert sie von der Welt sind, sie ist auch nicht natürlich.

Eine mögliche Version der Zukunft

In einer möglichen Version der Zukunft würde eine Fotocollage mit Portraits der Opfer, ein typisches Bild in Gaza, an der Wand im renovierten Haus der al-Khalilis hängen. Die Wände wären wieder weiß, der Ruß wäre weg. Die Zeit verginge und die Trauer würde etwas weniger werden, doch niemand würde die Getöteten vergessen. Die israelisch-ägyptische Blockade wäre vorüber und die Menschen könnten sich frei bewegen. Ismail würde nach Deutschland gehen, wie er es immer wollte. Ibrahim würde sein Wirtschaftsstudium abschließen und seinem Vater helfen, die Fabrik wieder aufzubauen. Die Familie könnte nach der Tragödie nicht von einem völlig normalen Leben träumen. Aber das Leben ohne die Blockade und ohne die dauernde Bedrohung durch israelische Bomben würde „natürlicher“ werden.

30 Juli 2014
 Acht Mitglieder der Familie al-Khalil wurden getötet, als sie auf ihre Evakuierung warteten.
30 Juli 2014

Acht Mitglieder der Familie al-Khalil wurden getötet, als sie auf ihre Evakuierung warteten.

Menschen, die bei dem Angriff in Gaza Stadt ums Leben kamen

30 Juli 2014

  • ASHRAF MAHMOUD AL-KHALILI
    33
  • NIDAA' ZIYAD AL-KHALILI 
    27, ASHRAFS EHEFRAU
  • MAHMOUD ASHRAF AL-KAHLILI
    7, ASHRAFS SOHN
  • DIMA ASHRAF AL-KHALILI
    5, ASHRAFS TOCHTER
  • ZIYAD ASHRAF AL-KHALILI
    2, ASHRAFS SOHN
  • AHMED MAHMOUD AL-KHALILI
    28, ASHRAFS BRUDER
  • AYA MOHAMMED AL-KHALILI
    23, AHMEDS EHEFRAU, IM DRITTEN MONAT SCHWANGER
  • LAMA AHMED AL-KHALILI
    4, AHMEDS TOCHTER