Familie Shuheibar Gaza City

Sie hieß Fulla

3 Menschen getötet

August 2015

Wie viele Menschen im Gazastreifen misstrauen inzwischen auch Kifah und Wissam dem nicht nachlassenden Strom an Journalisten, der seit letztem Sommer in ihr Haus strömt. „Ihr kommt her, wir öffnen unsere Herzen, ihr nehmt was ihr braucht, geht wieder und vergesst. Und uns bleiben all die schmerzlichen Erinnerungen, die wieder hochkommen“ sagen sie. Aber sie erzählen weiter. „Wir nannten unsere einzige Tochter Afnan, nach einem Mädchen aus Gaza, das den ganzen Koran auswendig lernte und vor einigen Jahren damit in die Nachrichten kam. Aber Afnan klingt hart, während Fulla einem von der Zunge rollt. Irgendwann nannte jeder sie Fulla“ erklärt Kifah.

Ihre Eltern tauften sie Afnan, aber alle nannten sie Fulla oder manchmal auch „Hassan“, ein Spitzname für jungenhafte Mädchen, um sie zu necken.

Ihre Eltern tauften sie Afnan, aber alle nannten sie Fulla oder manchmal auch „Hassan“, ein Spitzname für jungenhafte Mädchen, um sie zu necken.

Juli 2014

Es war der 17. Juli, der zwanzigste Tag des Ramadan und der neunte Tag der israelischen Offensive. Sie sahen einem ruhigen Tag entgegen. Seit dem Morgen galt ein Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas. Fulla ging ihre Cousinen besuchen. Ihre Tante liebte das kleine Mädchen sehr. Oft machten sie Späße zusammen, ihre Tante zog sie gerne auf. „Gib’ mir einen Schekel, dann darfst du hier bleiben“ sagte sie neckisch. „Nein? Dann gib’ mir dein Haarband.“

August 2015

Der Sommer ist heiß, kein Strom für den Ventilator, also stellen Wissam und Kifah Stühle auf das Dach, in der Hoffnung, durch eine Brise etwas Abkühlung zu finden. An den Wänden des Treppenhauses führt eine unregelmäßige Spur aus weißen Farbflecken nach oben zum Dach. In einer Ecke steht eine kleine Holzhütte, mit Maschendraht anstelle einer Vorderwand. Es ist ein Vogelkäfig. Kifah sagt, im vergangenen Jahr sei es ihr schwer gefallen, sich zu konzentrieren. „Ich war abgelenkt, ich vergesse viele Dinge“ erklärt sie. Nur die Erinnerung an ihren Verlust steht ihr immer klar vor Augen.

Juli 2014

Obwohl Israel Gaza seit neun Tagen bombardierte, hielten sich die Menschen streng an den Fastenmonat Ramadan, ein heiliger Monat für Muslime, in dem nachts im Dämmerlicht von Laternen auf der Straße gefeiert wird. „Macht den Ramadan zu einem dunklen Monat für sie“ sagte ein früheres Mitglied der Knesset, Michael Ben-Ari zur israelischen Öffentlichkeit. Sie folgten seinem Ruf: an den ersten Tagen des Ramadan begann Israel die Offensive auf den besetzten Gazastreifen unter dem Codenamen „Operation Protective Edge“ (deutsch etwa „Operation Schutzlinie“) und verwandelte so die „Feiertage des Lichts“ in fast zwei Monate der Dunkelheit.

Nacht während des Ramadan in Gaza, 2016
Ramadan, der heilige Monat der Muslime, ist eine Zeit des Fastens und der nächtlichen Feierlichkeiten

Nacht während des Ramadan in Gaza, 2016 Ramadan, der heilige Monat der Muslime, ist eine Zeit des Fastens und der nächtlichen Feierlichkeiten

In Gaza Stadt kümmerte sich die 8jährige Fulla im ihren kleinen Bruder Abdallah, wie an beinahe jedem Tag während des Ramadan. An diesem Morgen half sie ihm, sich zu waschen und frische Kleidung anzuziehen. Sie umarmte ihn und sagte: „Ich liebe dich heiß und innig, mein Bruder.“ Etwas später machte sie sich auf den Weg zum Haus ihrer Tante. Wie immer begann ihre Tante, sie zu necken: „Du willst hier bleiben? Gib’ mir einen Schekel.“ Fulla holte einen Schekel aus ihrer Tasche und gab ihn schweren Herzens ihrer Tante. „Na gut, du kannst den Schekel zurück haben, wenn du das Zimmer sauber machst.“ Die Tante strapazierte Fullas Geduld.

August 2015

Auf dem Dach sitzend erzählen Kifah und Wissam von ihrer Familie. „Mein Bruder und seine Frau haben vor kurzem ein Baby bekommen. Mit meiner Zustimmung nannten sie es Afnan, aus Liebe zu meiner Tochter“ sagt sie.

Juli 2014

Während der 5-stündigen Waffenruhe eilen die Menschen in die Stadt, zum Einkaufen oder um nach ihren Familie zu sehen. Im Haus ihrer Tante wird Fulla wieder geneckt und wird schließlich wütend, weil sie die Späße zu ernst nimmt. Zornig marschiert sie zurück zu ihrem Elternhaus. Sie erwartete sowieso noch Gäste. Wie jeden Donnerstag kamen ihr Onkel und seine Söhne zu Besuch. Fulla freute sich darauf, mit ihnen zu spielen. Sie war daran gewöhnt, das einzige Mädchen unter den Jungen in ihrer Familie zu sein. Meist gingen sie gemeinsam auf das Dach, um die Vögel zu füttern, die ihr älterer Bruder dort hielt.

Während kurzer Feuerpausen eilten die Menschen in die Stadt, um ihre Lebensmittel- und Wasservorräte aufzufüllen.

August 2015

„Jeder, der meine Tochter kennenlernte, mochte sie sofort“ lächelt Kifah. „Fulla war sehr großzügig. Als sie an diesem Tag nach Hause kam, wollte sie mein Gebetsgewand leihen. Sie hatte ihres an eine Cousine verschenkt.“

Juli 2014

Fulla kam nach Hause und betete. Sie hörte die Stimmen ihres älteren Bruders Oday und ihrer Cousins Basel, Jihad und Wassim aus dem Treppenhaus. Sie waren mit Vogelfutter auf dem Weg zum Dach. Natürlich wollte sie mitgehen. Der 16jährige Oday, dem die Vögel gehörten, bat die Kinder vor dem Verschlag zu warten, während er innen sauber machte. „Beeil dich, wir wollen auch rein“, drängelten sie.

Vor dem Krieg hielt Oday etwa dreißig Vögel in diesem Verschlag. Sein Vater erzählt uns später, dass viele wegflogen und nicht zurückkehrten.

Vor dem Krieg hielt Oday etwa dreißig Vögel in diesem Verschlag. Sein Vater erzählt uns später, dass viele wegflogen und nicht zurückkehrten.

August 2015

Als einziges Mädchen unter den Gleichaltrigen in ihrer Familie hatte Fulla noch einen Spitznamen: „Hassan“ – ein Name, der in Palästina als Spitzname für ein burschikoses Mädchen verwandt wird. „Wenn ich sie ärgerte und Hassan nannte, protestierte sie und sagte ‚Mama, gib’ mir eine Schwester mit der ich spielen kann’“ erinnert sich Kifah.

Juli 2014

Kifah bereitete den Iftar zu, das Mahl, welches das tägliche Fasten während des Ramadan abends unterbricht. Der Sonnenuntergang lag noch in weiter Ferne und der Nachmittag war dank des Waffenstillstandes ruhig. Sie beschloss, ein Nickerchen auf dem Balkon zu machen, bevor sie das Gemüse auf dem Dach zubereiten würde. Sie briet lieber dort oben, damit die Gerüche nicht durch das ganze Haus zogen. Kifah schloss ihre Augen und vergaß die Zeit. Jeder in Gaza weiß, wenn man sich in einem Haus befindet, das getroffen wird, klingt die Explosion gedämpft. Die Nachbarn hören es viel lauter. Trotz dieses Wissens ist es immer schwer zu glauben, wenn man getroffen wurde. Kifah jedoch wusste es sofort.

August 2015

Oday fällt es immer noch schwer, einen Stift zu halten. Seit vier Monaten schreibt seine Mutter die Hausaufgaben für ihn auf. Die Albträume, die Oday verfolgten hörten auf, als er das Krankenhaus verlassen konnte und wieder nach Hause kam. Umgeben von Familie und Freunden ging es ihm besser. Aber seine Konzentrationsfähigkeit hatte gelitten, und die Verletzung an der Hand machte es ihm schwer, in der Schule mitzuschreiben. Obwohl die Lehrer verständnisvoll und hilfsbereit waren und seine Noten gut, kam er eines Tages zu seinem Vater und verkündete, er wollte seinen Schwerpunkt in der Oberschule von Naturwissenschaften zu Literatur verlagern. Das wird in Gaza als leichter angesehen. Seine Eltern akzeptierten seine Wahl. „Was immer du möchtest“ sagten sie zu ihm. Er war früher ein Musterschüler, brachte immer die besten Noten nach Hause, wie seine kleine Schwester.

Die Albträume, die Oday verfolgten hörten auf, als er das Krankenhaus verlassen konnte und wieder nach Hause kam.

Die Albträume, die Oday verfolgten hörten auf, als er das Krankenhaus verlassen konnte und wieder nach Hause kam.

Juli 2014

Kifah sprang beim Geräusch der Explosion auf. Sie rannte zu ihrem Ehemann Wissam. „Das war unser Haus.“ sagte sie zu ihm. Zunächst glaubte er ihr nicht. Er sah aus dem Fenster, suchte nach Rauch über den Nachbarhäusern, aber sah nichts. Als er aus dem Zimmer rannte sah er ein Loch in der Decke des Badezimmers. „Oh Gott, die Kinder sind auf dem Dach“ dachte er und rannte barfuß nach oben.

August 2015

Eine Wohltätigkeitsorganisation hat sich an Kifah gewandt, mit der Frage ob sie die Habseligkeiten ihrer Tochter spenden möchte. Sie wollte nicht. Fullas Zimmer ist unberührt. Ihre Kleidung hängt ordentlich im Schrank, 2 Puppen sitzen auf dem Regal. Sie hatte einmal drei, doch Stunden vor der Attacke auf ihr Haus hatte Fulla eine an eine Cousine verschenkt.

Juli 2014

Ein Geschoss, abgefeuert aus einer Drohne hatte das Dach der Shuheibars getroffen und bei der Explosion flogen die Splitter in alle Richtungen. Die Wassertanks waren getroffen worden und Wasser lief über das Dach ins Treppenhaus. Die Kinder wurden durch die Explosion übereinander geworfen, Oday landete in einer Ecke. Als Wissam barfuß die Treppe hinaufrannte, verletzte er sich am Fuß. Oben angekommen, erstarrte er. „Oh Gott, oh Gott“ wiederholte er schreiend.

August 2015

Kifah spricht ruhig, während Tränen ihre Wangen hinunterrollen. „Sie weint nachts noch immer“ sagt Wissam „Ich habe sie gebeten, weniger zu weinen, denn das quält die Toten“ erklärt er einen alten muslimischen Glauben. Von den Qualen des Angriffs noch einmal zu berichten ermüdet das Paar, aber es ist nichts so schwer, wie vom Tod ihres kleinen Mädchens zu erzählen. „Fulla war sehr gut in der Schule. Sie lernte schneller als andere Kinder. Jeder der sie kannte – in der Familie, der Schule, der Moschee – liebte sie“ sagt ihre Mutter unter Tränen.

Wenn Kifah weint sagt Abdallah: „Mama, ich weiß warum du weinst, du weinst um Fulla.“

Wenn Kifah weint sagt Abdallah: „Mama, ich weiß warum du weinst, du weinst um Fulla.“

Juli 2014

Wissam sah die Kinder auf dem Boden liegen. „Für einen Moment wusste ich nicht, was zu tun war. Ich fragte mich, ob ein weiterer Angriff kommen würde. Ich vertraute Gott und rannte zu ihnen. Mein älterer Sohn Oday stöhnte ‚Papa, ich bin verletzt’“ erinnert er sich. Völlig unter Schock stehend, schrie er seinen Sohn an ruhig zu sein, während er nach den jüngeren Kindern sah. Die Brüder Jihad und Wassim atmeten nicht, aber Basel und Fulla waren noch am Leben. Wissam nahm sie auf den Arm und versuchte, sie die Treppe hinabzutragen aber die war rutschig. Das Wasser aus den Tanks lief noch immer herunter. Barfuß und verletzt rutschte Wissam mit den Kindern auf dem Arm aus. Das Blut Fullas und Basels hinterließ Spuren an der Wand des Treppenhauses. „Die Seele verließ Basel schon“ erinnert er sich. Kifah rannte die Treppe hinauf und nahm ihm Basel ab. Fulla weinte „Papa, meine Hand…“ Er erreichte die Tür, sah Menschen die kamen um zu helfen und verlor das Bewusstsein.

August 2015

Das Blut an der Wand des Treppenhauses ist mit weißer Farbe übertüncht worden. Das Vogelhaus ist fast leer. „Früher lebten dreißig Vögel in dem Verschlag. Drei wurden getötet, und alle Jungtiere ebenfalls. Manche flogen davon und kamen nicht wieder, das machen Vögel bei einer Explosion“ erklärt Wissam. Oday kann sich nicht mehr um die übrig gebliebenen Tiere kümmern. „Verkauf sie“ riet ihm sein Vater. Heute sind nur noch sechs übrig.

Juli 2014

Wassim und Jihad waren sofort tot. Fulla starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Basel und Oday überlebten mit schweren Verletzungen.

August 2015

Oday musste sich seit dem Angriff vier Operationen unterziehen. Durch Splitter wurden sein Magen, seine rechte Hand und sein Bein schwer geschädigt. „Solange keiner den Angriff erwähnt, geht es Oday gut. Sobald jemand davon spricht, starrt er ins Leere. Das Problem mit Oday ist, dass er nicht ohnmächtig wurde. Er lag da und hat alles mitbekommen“ sagt Wissam. „Er sah sie sterben und konnte nichts tun.“

Dies ist Basel Shuheibar, zehn Jahre alt, zwei Monate nach dem Drohnenangriff. Wenn Basel wütend wird, macht er Sachen kaputt. Oder er schlägt seine Schwester. Beruhigende Medikamente, die Ärzte ihm verschrieben, können die Zornausbrüche nicht verhindern. Wenn er sich wieder beruhigt, kommen die Kopfschmerzen.

Bei dem Drohnenangriff erlitt er schwere Verletzungen an Kopf, Arm und Hand. Ein Teil seines Schädelknochens fehlt. Er hatte Splitter in seinem Kopf und seinem Körper. Er überlebte nur knapp und lag zwei Tage lang im Koma. Schließlich wurde Basel in Deutschland operiert, um die Splitter aus seinem Kopf zu entfernen. Sein Nervensystem wurde beschädigt und in seine Hand wurden Metallplatten eingesetzt, damit die Knochen verheilen können.

Als wir ihn auf den Tag genau ein Jahr nach dem Angriff besuchen, ist er dünner als auf dem Foto, aber sieht auch weniger erschöpft aus. Noch immer leidet er unter Zornausbrüchen, aber sie werden seltener.

Basel sprach nicht viel, aber er war auch nicht bedrückt. Er lächelte sogar. Er hatte einige Monate in Deutschland und der Türkei verbracht, wurde dort am Arm und am Kopf operiert. Seine Mutter sagt, ja, es gehe ihm besser, aber er leide noch immer an Schmerzen im Arm und an wiederkehrenden Kopfschmerzen. In seinem Körper befinden sich noch immer möglicherweise krebserregende Splitter.

Wie andere Kinder in Gaza, die durch den Krieg traumatisiert sind, hat auch er Probleme in der Schule; sich längere Zeit zu konzentrieren und sich Dinge zu merken fällt ihm schwer. Basels Mutter tut alles, um ihm zu helfen: Die Schule ist ein Muss und obwohl er einige Monate lang wegen seiner verletzten Hand nicht schreiben konnte, ging er zum Unterricht. Basel sagt, die Alpträume, die er in den ersten Monaten nach dem Angriff hatte, würden jetzt nicht mehr wiederkommen. Er meidet nicht mehr alle Menschen, aber Zeit mit anderen Kindern zu verbringen ist immer noch schwierig. „Wegen meiner Verletzung werde ich müde, habe Kopfschmerzen. Und ich habe Angst, meine Kopfverletzung könnte wieder aufgehen“ erklärt er. Deshalb ist er manchmal lieber alleine.

Von links: Wassim, Afnan und Jihad. Der kleine schwarze Gegenstand  in der Bildmitte ist ein Teil der Bombe, die die drei Kinder tötete. Dieses Teil wurde in Frankreich hergestellt.

Von links: Wassim, Afnan und Jihad. Der kleine schwarze Gegenstand in der Bildmitte ist ein Teil der Bombe, die die drei Kinder tötete. Dieses Teil wurde in Frankreich hergestellt.

Die Familie Shuheibar hat Klage gegen den französischen Hersteller erhoben, wegen der Beihilfe zu Kriegsverbrechen.

Menschen, die bei dem Angriff in Gaza City ums Leben kamen

17 Juli 2014

  • Afnan Wissam Shuheibar
    8
  • Jihad Issam Shuheibar
    10, Afnans Cousin
  • Wassim Issam Shuheibar
    9, Jihads Bruder