Familie Al-Hashash Rafah

Tag der Märtyrer

7 Menschen getötet

Jeden Morgen sieht Mina auf dem Weg zur Schule ein großes Plakat am Straßenrand. Sie geht immer extra nah vorbei. Wenn jemand auf der Straße ist, fordert sie deren Aufmerksamkeit und zieht die Person herüber, um mit ihr das Poster zu betrachten. Auf ihm sieht man Bilder ihrer Brüder und eine Rose anstelle des Fotos ihrer Stiefmutter Hanaa’. Nachbarn oder Passanten müssen stehen bleiben, während Mina alle ihre Namen aufzählt. Erst, wenn das Ritual vorüber ist, erlaubt sie ihnen weiterzugehen.

Die Familie

Ahmed al-Hashash hielt das Band zwischen ihnen. Er ist ein tiefreligiöser Mann. Er war mit drei Frauen verheiratet,  Amina, Hanaa’ und Amna, und gemeinsam hatten sie zwölf Kinder. Es war eine große Familie. Amna und Amina erzählen mir, dass zwischen ihnen eine große Wärme herrschte, sie unterstützten sich alle gegenseitig. „Wir waren alle eins“ sagt Amna, die Polygamie stand dem nicht im Weg.

Ahmed war besonders stolz auf seine Söhne, sie waren sehr gut in der Schule. Wie viele Palästinenser war ihm Bildung wichtiger als alles andere. Sie zu bekommen, wenn man permanent in einem Zustand der Heimatlosigkeit lebt, ist nicht einfach. Ahmed ist stellvertretender Direktor einer Schule der UNRWA, einem Hilfsprogramm der UN für palästinensische Flüchtlinge. Er war ein stolzer Vater und Lehrer.

Schulzeugnis von Mohammed al-Hashash

Schulzeugnis von Mohammed al-Hashash

La maison de la famille al- Hashash à Rafah.

Viele der Männer und Frauen der Familie engagierten sich. Hanaa’ hatte den ersten Kindergarten im Stadtteil al-Hashasheen von Rafah gegründet, wo die Familie lebte. Mit der Zeit war der Kindergarten zu einem Zentrum für bürgerliches Engagement und Frauenrechte gewachsen. Ihr Stiefsohn Bilal war ein angehender Rechtsanwalt, der den Leuten half, Probleme mit lokalen Behörden zu lösen. Mohammed, Hanaa’s Sohn war seit einem Autounfall zwar behindert, organisierte aber trotzdem ein Fußballteam für die Kinder der Nachbarschaft. „Sie waren ein eingeschworenes Team, das anderen in unserer Gesellschaft in schwierigen Situationen half. Die Leute haben das Gefühl, die Hälfte der Jugend des Viertels verloren zu haben“, sagt Ahmed.

„Sie waren ein eingeschworenes Team, das anderen in unserer Gesellschaft in schwierigen Situationen half. Die Leute haben das Gefühl, die Hälfte der Jugend des Viertels verloren zu haben“
AHMED AL-HASHASH

„Sie waren ein eingeschworenes Team, das anderen in unserer Gesellschaft in schwierigen Situationen half. Die Leute haben das Gefühl, die Hälfte der Jugend des Viertels verloren zu haben“

AHMED AL-HASHASH

Israelische Bombardements in der Gegend von Rafah, am 3. August 2014.

Nie mehr aufwachen

„Wir müssen uns auf eine länger andauernde Militäroperation in Gaza einstellen.“ sagte der israelische Premierminister Benyamin Netanyahu. Er hielt eine Rede im israelischen Parlament, der Knesset. Es war Ende Juli, die israelische Invasion im Gazastreifen lief schon eine Weile. Seine Rede wurde auch in Gaza im Fernsehen übertragen. Diejenigen, die Elektrizität hatten, schauten wachsam zu, anstatt das Ende des Ramadan und den ersten Tag des Festes Eid al-Fitr zu feiern. “Wir wussten, es würde schwierige Tage geben; heute war ein schwieriger und schmerzhafter Tag.“ fuhr Netanyahu fort, pausierend, damit die Worte ihre Wirkung entfalten konnten. Seine Stimme drang aus dem Fernseher in das Haus der al-Hashashs, ab und an unterbrochen durch die Geräusche näherkommender Explosionen.

Menschen fliehen aus ihren Häusern im südlichen Gazastreifen während der Offensive 2014.

Hanaa’ hatte genug, und das sollte einiges heißen, den jeder kannte sie als starke Person. Sie ging früh ins Bett und sagte zu Amina sie hoffe, nie mehr aufzuwachen. Der Rest der Familie blieb wach, man sprach miteinander, machte Witze und versuchte die Spannung zu vertreiben, genährt durch die näherkommenden Bomben und Netanyahus Versprechen, den Krieg in Gaza fortzuführen.

In den frühen Morgenstunden wurde das Haus von einer Explosion erschüttert. Die Familie kauerte sich im Erdgeschoss zusammen. Die Bomben kamen immer näher. Masoud, Aminas Sohn, wollte wie immer Verantwortung übernehmen und ging hinaus, um die Situation auszukundschaften und ein Auto zu holen, um alle wegzubringen. Er war an der Türschwelle, als eine israelische Rakete aus einer Drohne ihn traf. „Wir sahen ihn sterben.“ sagt sein Vater.

Es blieb keine Zeit, um Masoud zu trauern. Es könnte eine Warnung vor dem Haupttreffer gewesen sein. „Wir dachten, als nächstes würden sie das Haus bombardieren“ sagt Ahmed. Die Familie verließ das Haus so, wie sie waren. Hanaa’, durch eine Lähmung an den Rollstuhl gefesselt, musste getragen werden. Ahmed hob sie hoch, aber nach 30 Metern war er außer Atem. Seine Söhne Said und Bilal halfen und trugen sie. Die ganze Familie war auf der Straße: 12 Kinder, drei Ehefrauen, Ahmed und seine alten Eltern. Keine 60 Meter vom Haus entfernt, traf sie eine Rakete.

Ahmed wurde verletzt. Er war bei Bewusstsein, aber stand unter Schock. „Ich wollte den Rettungsdienst rufen, aber konnte mich erst nicht bewegen“ sagt er. Er sah sich um. Was er wahrnahm, war ein Blutbad: seine Lieben, verletzt, blutend, in alle Richtungen geschleudert durch die Explosion. Er rannte von einem zum nächsten, um nach ihnen zu sehen.

Ein Verwandter und Nachbar, der 20jährige Mohammed, kam angerannt um zu helfen. In diesem Moment feuerte eine israelische Drohne eine dritte Rakete und tötete den jungen Mann. Als die Krankenwagen endlich ankamen, starben Hanaa’ und ihre Söhne, einer nach dem anderen – Ibrahim, Said, Mohammed und ihr Halbbruder Bilal. Ihre kleine Schwester, die vierjährige Mina, war verletzt. Im Krankenhaus herrschte Chaos, es gab nicht genug Ärzte um all die Verletzten zu behandeln. Ahmed musste selbst die Splitter aus Minas Körper ziehen.

Wer waren sie?

Wer waren sie?

Hanaa'

Hanna’a war eine Bürgeraktivistin, die Matriarchin des Viertels. Sie war nach Rafah gezogen, nachdem sie  Ahmed 1993 geheiratet hatte. Dort eröffnete sie einen ersten Kindergarten. Er wuchs zu etwas Größerem: einem Zentrum für die Bürger und für die Frauenrechte. Sie nannte es Al-Nour, das Licht und erreichte über die Jahre mehr als 15 000 Menschen. Dann wurde sie krank und verlor schließlich die Gewalt über ihre Beine, sie war auf den Rollstuhl angewiesen. Das fesselte sie an ihr Haus, wo sie die Tage damit verbrachte, den Qur’an zu lesen. Aber die Leute vergaßen sie nicht, sie kannten Hana’as Weisheit und besuchten sie oft, fragten sie um Rat.

Mohammed

Die Kinder der Familie waren alle erfolgreich, aber auf Mohammed waren Ahmed und Hana’a besonders stolz. Sie beide hatten für ihn einen besonderen Platz in ihrem Herzen seit sie ihn mit 9 Jahren fast verloren hatten: Er fiel nach einem Unfall ins Koma. Hana’a wurde fast verrückt. Sie betete und betete, bat Gott ihn zurückzubringen. Schließlich wachte er auf, aber er benötigte eine lange, schmerzhafte Rehabilitation um wieder mobil zu werden. Der Unfall veränderte ihn. Er war zwar körperlich behindert, erblühte aber von einem schüchternen Kind zu einem lebensfrohen Mann. Obwohl er selbst keinen Sport machen konnte, gründete er das Fußballteam des Viertels. Er organisierte das Training und die Spiele. Die Mannschaft spielt heute noch.

Said

Said war religiös wie sein Vater und engagierte sich im Viertel wie seine Mutter. „Er liebte es, wenn man seine Stimme in der ganzen Nachbarschaft hörte“ erinnert sich Amina, Saids Stiefmutter. Egal was geschah, er würde zur Moschee rennen, falls er nicht sowieso dort war, auf das Minarett klettern und über den Lautsprecher alle informieren. „Ein vermisstes Kind, der Besuch eines Arztes, eine Feier, eine Gedenkfeier… und so weiter“ sagt Amina. Nachmittags kam er oft nach Hause und klopfte mit Schokolade oder Blumen an die Türen seiner Stiefschwestern, oder auch nur um nachzusehen, ob sie etwas brauchten.

Bilal

Obwohl Bilal nicht Hanaa’s Sohn war, ähnelte er ihr sehr: er lebte für die Gemeinschaft. Der 24jährige arbeitete als angehender Rechtsanwalt in einem Komitee, das Bürgern half, Probleme mit der Verwaltung Rafahs zu lösen. Neben seiner Arbeit nahmen Bilal und seine Freunde von der Universität Fälle von Leuten an, die sich sonst keinen Anwalt leisten konnten. Er half gerne, es war immer sein erster Instinkt.

Masoud

Der älteste Sohn Aminas war ein fröhlicher 19jähriger. Wie viele Heranwachsende in Gaza, hatte er drei Kriege erlebt und das nagte an ihm. Der Ramadan ging zuende und normalerweise wäre es eine Zeit des Feierns gewesen, das Fest des Fastenbrechens. Aber mitten im Krieg, während der Angriffe, war es schwer fröhlich zu sein und anstatt einem Freund ein Frohes Fastenbrechen zu wünschen, schrieb er ihm eine SMS „Trauriges Fastenbrechen“ und „Fest der Märtyrer“.

Ibrahim

Ahmed hat viele Fotos seiner Söhne. Keine Woche vergeht, ohne dass er durch die Fotos klickt und in Erinnerungen versinkt. Er denkt oft an den 16jährigen Ibrahim mit seinem breiten Lächeln. Ein lebendiger Teenager, so freundlich, dass die Leute ihn „die Friedenstaube“ nannten.

 Ibrahims Rucksack. „Ibrahim liebte es, zu zeichnen und er war sehr gut darin“  - erinnert sich sein Vater.

Ibrahims Rucksack. „Ibrahim liebte es, zu zeichnen und er war sehr gut darin“ - erinnert sich sein Vater.

MINA

Ibrahim war der Lieblingsbruder der Vierjährigen Mina. Sie schläft noch immer in seinem Bett. Sie kann nicht aufhören, jedem der zuhört von ihm zu erzählen. Sie träumt von ihm. „Einmal ist sie nachts aufgewacht und fragte ‚Wo ist Ibrahim hingegangen?’“ erinnert sich ihre Mutter Amna. Die nun Fünfjährige kann ihre Wutausbrüche nicht kontrollieren. Manchmal sind sie gegen ihre Mutter gerichtet: Mina macht sie für den Tod ihrer Halbbrüder verantwortlich. „Du bist entkommen und hast sie nicht mitgenommen“ sagt sie „Warum sind sie gestorben und wir nicht?“

“Lasst uns Tante Hanaa’ besuchen, die zu einem kleinen Baby geworden ist“ sagt Mina. Ihre Familie hat sich daran gewöhnt. Sumaya, Minas Halbschwester erklärt, dass die Frauen der Familie al-Hashash beschlossen haben, ihre Neugeborenen nach den Toten des israelischen Angriffes zu benennen. „Mina ist überzeugt davon, dass diese Babys ihre Brüder und Hanaa’ sind. Sie glaubt, sie seien nicht tot, sondern sind wieder zu Kindern geworden, damit sie mit ihr aufwachsen können.“

Ecoutez deux psychologues de Gaza parler du traumatisme des enfants. Diaporama avec des peintures de Raed Issa, un artiste de Gaza.

Menschen, die bei dem Angriff in Rafah ums Leben kamen

29 Juli 2014

  • BILAL AHMED AL-HASHASH
    24, AHMED UND AMINAS SOHN
  • SAID AHMED AL-HASHASH
    20, AHMED UND HANAAS SOHN
  • MASOUD AHMED AL-HASHASH
    19, AHMED UND AMINAS SOHN
  • MOHAMMED AHMED AL-HASHASH
    19, AHMED UND HANAAS SOHN
  • IBRAHIM AHMED AL-HASHASH
    15, AHMED UND HANAAS SOHN
  • HANAA' JABER ALI AL-HASHASH
    47, MUTTER VON SAID, MOHAMMED UND IBRAHIM
  • MOHAMMED MOUSA AL-HASHASH 
    20, NACHBAR UND ENTFERNTER VERWANDTER