Jeden Morgen sieht Mina auf dem Weg zur Schule ein großes Plakat am Straßenrand. Sie geht immer extra nah vorbei. Wenn jemand auf der Straße ist, fordert sie deren Aufmerksamkeit und zieht die Person herüber, um mit ihr das Poster zu betrachten. Auf ihm sieht man Bilder ihrer Brüder und eine Rose anstelle des Fotos ihrer Stiefmutter Hanaa’. Nachbarn oder Passanten müssen stehen bleiben, während Mina alle ihre Namen aufzählt. Erst, wenn das Ritual vorüber ist, erlaubt sie ihnen weiterzugehen.
Tag der Märtyrer
7 Menschen getötetDie Familie
Ahmed al-Hashash hielt das Band zwischen ihnen. Er ist ein tiefreligiöser Mann. Er war mit drei Frauen verheiratet, Amina, Hanaa’ und Amna, und gemeinsam hatten sie zwölf Kinder. Es war eine große Familie. Amna und Amina erzählen mir, dass zwischen ihnen eine große Wärme herrschte, sie unterstützten sich alle gegenseitig. „Wir waren alle eins“ sagt Amna, die Polygamie stand dem nicht im Weg.
Ahmed war besonders stolz auf seine Söhne, sie waren sehr gut in der Schule. Wie viele Palästinenser war ihm Bildung wichtiger als alles andere. Sie zu bekommen, wenn man permanent in einem Zustand der Heimatlosigkeit lebt, ist nicht einfach. Ahmed ist stellvertretender Direktor einer Schule der UNRWA, einem Hilfsprogramm der UN für palästinensische Flüchtlinge. Er war ein stolzer Vater und Lehrer.
Viele der Männer und Frauen der Familie engagierten sich. Hanaa’ hatte den ersten Kindergarten im Stadtteil al-Hashasheen von Rafah gegründet, wo die Familie lebte. Mit der Zeit war der Kindergarten zu einem Zentrum für bürgerliches Engagement und Frauenrechte gewachsen. Ihr Stiefsohn Bilal war ein angehender Rechtsanwalt, der den Leuten half, Probleme mit lokalen Behörden zu lösen. Mohammed, Hanaa’s Sohn war seit einem Autounfall zwar behindert, organisierte aber trotzdem ein Fußballteam für die Kinder der Nachbarschaft. „Sie waren ein eingeschworenes Team, das anderen in unserer Gesellschaft in schwierigen Situationen half. Die Leute haben das Gefühl, die Hälfte der Jugend des Viertels verloren zu haben“, sagt Ahmed.
Nie mehr aufwachen
„Wir müssen uns auf eine länger andauernde Militäroperation in Gaza einstellen.“ sagte der israelische Premierminister Benyamin Netanyahu. Er hielt eine Rede im israelischen Parlament, der Knesset. Es war Ende Juli, die israelische Invasion im Gazastreifen lief schon eine Weile. Seine Rede wurde auch in Gaza im Fernsehen übertragen. Diejenigen, die Elektrizität hatten, schauten wachsam zu, anstatt das Ende des Ramadan und den ersten Tag des Festes Eid al-Fitr zu feiern. “Wir wussten, es würde schwierige Tage geben; heute war ein schwieriger und schmerzhafter Tag.“ fuhr Netanyahu fort, pausierend, damit die Worte ihre Wirkung entfalten konnten. Seine Stimme drang aus dem Fernseher in das Haus der al-Hashashs, ab und an unterbrochen durch die Geräusche näherkommender Explosionen.
Hanaa’ hatte genug, und das sollte einiges heißen, den jeder kannte sie als starke Person. Sie ging früh ins Bett und sagte zu Amina sie hoffe, nie mehr aufzuwachen. Der Rest der Familie blieb wach, man sprach miteinander, machte Witze und versuchte die Spannung zu vertreiben, genährt durch die näherkommenden Bomben und Netanyahus Versprechen, den Krieg in Gaza fortzuführen.
In den frühen Morgenstunden wurde das Haus von einer Explosion erschüttert. Die Familie kauerte sich im Erdgeschoss zusammen. Die Bomben kamen immer näher. Masoud, Aminas Sohn, wollte wie immer Verantwortung übernehmen und ging hinaus, um die Situation auszukundschaften und ein Auto zu holen, um alle wegzubringen. Er war an der Türschwelle, als eine israelische Rakete aus einer Drohne ihn traf. „Wir sahen ihn sterben.“ sagt sein Vater.
Es blieb keine Zeit, um Masoud zu trauern. Es könnte eine Warnung vor dem Haupttreffer gewesen sein. „Wir dachten, als nächstes würden sie das Haus bombardieren“ sagt Ahmed. Die Familie verließ das Haus so, wie sie waren. Hanaa’, durch eine Lähmung an den Rollstuhl gefesselt, musste getragen werden. Ahmed hob sie hoch, aber nach 30 Metern war er außer Atem. Seine Söhne Said und Bilal halfen und trugen sie. Die ganze Familie war auf der Straße: 12 Kinder, drei Ehefrauen, Ahmed und seine alten Eltern. Keine 60 Meter vom Haus entfernt, traf sie eine Rakete.
Ahmed wurde verletzt. Er war bei Bewusstsein, aber stand unter Schock. „Ich wollte den Rettungsdienst rufen, aber konnte mich erst nicht bewegen“ sagt er. Er sah sich um. Was er wahrnahm, war ein Blutbad: seine Lieben, verletzt, blutend, in alle Richtungen geschleudert durch die Explosion. Er rannte von einem zum nächsten, um nach ihnen zu sehen.
Ein Verwandter und Nachbar, der 20jährige Mohammed, kam angerannt um zu helfen. In diesem Moment feuerte eine israelische Drohne eine dritte Rakete und tötete den jungen Mann. Als die Krankenwagen endlich ankamen, starben Hanaa’ und ihre Söhne, einer nach dem anderen – Ibrahim, Said, Mohammed und ihr Halbbruder Bilal. Ihre kleine Schwester, die vierjährige Mina, war verletzt. Im Krankenhaus herrschte Chaos, es gab nicht genug Ärzte um all die Verletzten zu behandeln. Ahmed musste selbst die Splitter aus Minas Körper ziehen.
Wer waren sie?
MINA
Ibrahim war der Lieblingsbruder der Vierjährigen Mina. Sie schläft noch immer in seinem Bett. Sie kann nicht aufhören, jedem der zuhört von ihm zu erzählen. Sie träumt von ihm. „Einmal ist sie nachts aufgewacht und fragte ‚Wo ist Ibrahim hingegangen?’“ erinnert sich ihre Mutter Amna. Die nun Fünfjährige kann ihre Wutausbrüche nicht kontrollieren. Manchmal sind sie gegen ihre Mutter gerichtet: Mina macht sie für den Tod ihrer Halbbrüder verantwortlich. „Du bist entkommen und hast sie nicht mitgenommen“ sagt sie „Warum sind sie gestorben und wir nicht?“
“Lasst uns Tante Hanaa’ besuchen, die zu einem kleinen Baby geworden ist“ sagt Mina. Ihre Familie hat sich daran gewöhnt. Sumaya, Minas Halbschwester erklärt, dass die Frauen der Familie al-Hashash beschlossen haben, ihre Neugeborenen nach den Toten des israelischen Angriffes zu benennen. „Mina ist überzeugt davon, dass diese Babys ihre Brüder und Hanaa’ sind. Sie glaubt, sie seien nicht tot, sondern sind wieder zu Kindern geworden, damit sie mit ihr aufwachsen können.“
Menschen, die bei dem Angriff in Rafah ums Leben kamen
29 Juli 2014
- BILAL AHMED AL-HASHASH 24, AHMED UND AMINAS SOHN
- SAID AHMED AL-HASHASH 20, AHMED UND HANAAS SOHN
- MASOUD AHMED AL-HASHASH 19, AHMED UND AMINAS SOHN
- MOHAMMED AHMED AL-HASHASH 19, AHMED UND HANAAS SOHN
- IBRAHIM AHMED AL-HASHASH 15, AHMED UND HANAAS SOHN
- HANAA' JABER ALI AL-HASHASH 47, MUTTER VON SAID, MOHAMMED UND IBRAHIM
- MOHAMMED MOUSA AL-HASHASH 20, NACHBAR UND ENTFERNTER VERWANDTER