Einleitung
von Amira Hass
Hinter jeder ausgelöschten Familie in Gaza steht ein israelischer Pilot. Hinter jedem verwaisten Kind, das seine Brüder und Schwestern bei den Bombardements verloren hat, stehen ein israelischer Offizier, der den Befehl gab und ein Soldat, der abdrückte.
Hinter jedem zerstörten palästinensischen Haus steht ein israelischer Physiker und Hightech-Spezialist, der die besten Winkel für die größtmögliche Zerstörung berechnet hat. Und der Armeesprecher, der (unterstützt durch Rechtsexperten) den Fragen der Journalisten immer wieder auswich: Wie verhältnismäßig ist es, ein Gebäude mit all seinen Bewohnern zu bombardieren? Was – nach Ihrer Rechtsprechung – rechtfertigt es, 23 Mitglieder einer Familie mit einer Rakete zu töten, auch Babys, Kinder und alte Menschen?
In den folgenden Geschichten gibt es einen sehr offensichtlich Abwesenden: die israelische Gesellschaft. Seien es die direkt Verantwortlichen, von Ministern über Militärs aller Ränge oder jene, die indirekt verantwortlich sind – durch ihre Unterstützung oder ihre Weigerung, diese Vorgänge wahrzunehmen.
Haben die direkt Mitschuldigen – die meist ihre Anonymität wahren – jemals ein Interesse daran gezeigt, wer von ihren intelligenten Bomben getroffen wird? Oder wie viele unbewaffnete Zivilisten sie getötet haben; deren Namen; wie viele von ihnen Mädchen oder Jungen waren; wie viele Mitglieder einer einzigen Familie; wie viele Familien komplett ausgelöscht wurden? Die räumliche Entfernung und die Tatsache, dass weder Soldaten noch Offiziere ihre Hände mit Blut besudeln oder die entstellten Leichen sehen mussten, helfen sicherlich, jegliche Information, Wissen und das Nachdenken darüber zu vergessen.
Vor und zwischen den großen Angriffen der Jahre 2008/2009, 2012 und 2014 gab es „kleinere“ israelische Attacken und auch sie haben Leben ausgelöscht, die Mühen vieler Jahre zerstört und Traumen aus vergangenen Desastern verstärkt. Weitere Glieder in einer Kette aus Ungerechtigkeiten, die den Kopf schwindeln lassen wenn man sie nicht verdrängen kann. Manchmal helfen die Bewohner Gazas einem zu vergessen: mit ihrem Humor, ihrer Wärme, wie sie ihr Leben voller Kraft weiterleben, mit ihrer Kreativität die alle Begrenzungen und Einschränkungen der Besetzung und ihren Schmerz überwindet und mit ihrer Stille – denn sie können nicht mehr davon erzählen oder sehen keinen Sinn mehr darin. Doch mehr als je zuvor, mehr als nach jeder anderen Großoffensive oder kleineren Angriffen, haben die Bewohner Gazas nach 2014 von diesen schlimmsten aller Angriffe erzählt.
Das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) der UN hat berechnet, dass 142 Familien drei oder mehr Angehörige in gezielten Bombardements verloren haben. Insgesamt starben 742 Menschen bei solchen direkten Angriffen, über 25% aller palästinensischen Opfer in jenem Sommer. Es gibt kaum etwas Schwierigeres, als Aussagen von Familien zu bekommen, die fast ausgelöscht wurden und nun versuchen sollen, das schreckliche Vakuum zu beschreiben, das geschaffen wurde und nicht gefüllt werden kann. Die Wahl von „nur“ zehn Familien ist eine Aussage: Das Sammeln und Lesen von Zeugenaussagen darf nicht automatisiert werden. Das darf nicht geschehen, denn sonst stumpfen die Gefühle ab. Die Stille und der Raum zwischen dem Gesagtem und dem Ungesagtem, dem Geschriebenen und dem Ungeschriebenen, stehen für alle anderen.
Die Auslöschung ganzer Familien war eine der abstoßenden Merkmale der Offensive von 2014. Es waren keine Fehler oder schlechte individuelle Entscheidungen des Piloten, des Navigationsoffiziers oder des Brigadegenerals. Es war eine Strategie. Hier gibt es keine anonymen Akteure: die Identität der Strategen ist weithin bekannt, wie auch ihre Namen und Stellungen.
Zwischen dem 7. Juli und dem 26. August flog Israel 6.000 Luftangriffe auf den Gazastreifen, feuerte 14.500 Panzergranaten ab und etwa 35.000 Artilleriegranaten. 2.251 Palästinenser starben, 1.462 davon Zivilisten, unter ihnen 551 Kinder und 299 Frauen. Manche der Getöteten waren Kämpfer der verschiedenen bewaffneten Gruppen, doch einige von ihnen kamen unter den gleichen Umständen ums Leben wie ihre zivilen Verwandten: in ihren Betten, in ihren eigenen Häusern, beim Fastenbrechen, in ihren Wohnräumen.
Wie die NGO B’Tselems in ihrem Bericht „Black Flag“ schreibt, der 70 der 142 Vorfälle untersuchte, gab es aus Israel mit Ausnahme weniger Fälle keine Erklärung für die Bombardierungen oder den Beschuss der Häuser und ihrer Bewohner. Mit anderen Worten hat Israel nie offen gelegt, was und wer seine Ziele sind: ein Mitglied der Familie, ein Waffenlager im Haus oder abgefeuerte Schüsse aus einem Nachbarhaus? Das systematische Vorgehen und das Schweigen darüber zeigen, dass Israel es als „legitim“ und „verhältnismäßig“ betrachtet, ganze Familien zu töten: ob einer von ihnen Hamas-Kämpfer ist, ob sich ein Waffenlager in der Nähe oder sogar in ihrem Haus befindet oder aus einem anderen Grund. Was bedeutet das? Dass es legitim wäre, nahezu jedes Haus in Israel zu bombardieren, da in fast jeder israelische Familie ein bewaffneter Soldat ist, viele Häuser von ranghohen Militärs bewohnt werden und wichtige Militär- und Sicherheitsanlagen sich im Herzen der israelischen Zivilgesellschaft befinden. Es ist ein absurdes und kriminelles Argument für Kriegshandlungen. Doch für eine Mehrheit der israelischen Gesellschaft ist es richtig und gerechtfertigt.
Dem OCHA zufolge haben die Hamas und die anderen bewaffneten palästinensischen Organisationen 4.811 Raketen und 1.753 Mörser auf Israel abgefeuert. 94% davon erreichten ihre maximale Reichweite von 50 Kilometern, schreibt B’Tselem. Dieser Beschuss zielte vor allem auf die israelische Zivilbevölkerung. Aufgrund der beschränkten Technologien der Hamas und dank Israels modernster Abwehrtechnik sowie der Evakuierung vieler Bewohner gab es nur wenige zivile Opfer: 6 israelische Zivilisten wurden getötet, darunter ein 5-jähriges Kind. Die 67 israelischen Soldaten, die bei den Angriffen ums Leben kamen, starben im Einsatz. Die palästinensischen Kämpfer, die sie töteten, verteidigten ihr eigenes Volk vor den Angreifern.
Der Gazastreifen ist kein souveräner Staat, auch wenn das Hamas Regime sich manchmal benimmt wie die unabhängige Regierung eines befreiten Gebietes. Laut internationaler Abmachungen ist der Gazastreifen untrennbar Teil eines palästinensischen Staates, den die Weltgemeinschaft zumindest auf dem Papier nach wie vor gründen möchte. Er ist noch immer von Israel besetzt, auch wenn sich das Ausmaß der Kontrolle von der im Westjordanland und Ost-Jerusalem unterscheidet. Beispielsweise untersteht das Melderegister von Gaza, genau wie das des Westjordanlandes, dem israelischen Innenministerium und seinen Richtlinien. Nur mit israelischer Zustimmung können die palästinensischen Autoritäten einem 16jährigen seinen Ausweis ausstellen. Tausende Palästinenser und syrische Flüchtlinge leben ohne Ausweis im Gazastreifen: Israel genehmigt ihn nicht. Als Besatzungsmacht ist Israel vermeintlich für die Bevölkerung verantwortlich – doch es ersetzt diese Verantwortung durch immer brutalere Herrschafts- und Vergeltungsmaßnahmen. Die militärischen Angriffe sind und waren die Fortführung von Israels Politik, den Gazastreifen vom Rest der Palästinensergebiete abzutrennen, um die dortige Bevölkerung in eine Ansammlung separater, unzusammenhängender Gruppen und Individuen zu verwandeln.
Als das besetzte Land hat Palästina das Recht, sich gegen den Besatzer zu wehren. Doch dieses Recht untersteht auch internationalen Gesetzen, dem gesunden Menschenverstand, der internationalen Lage und der Verantwortung der Anführer gegenüber ihrem Volk. Die Hamas hatte eigene, interne politische Gründe den militärischen Weg zu wählen – trotz all der vorangegangenen Kriege, mit denen man es nicht geschafft hatte, seine Ziele zu erreichen. Natürlich hat die Hamas über die Jahre ihre eigenen Mittel und Fähigkeiten im militärischen Bereich ausgebaut. Aber wie die Offensive von 2014 zeigte, ist und bleibt sie auch weiterhin der militärischen Macht Israels unterlegen. Militärische Konfrontationen sind Israels Stärke. Es ist genau das, was vermieden werden sollte.
Amira Hass
Juli 2016