Familie Al-Najjar
Bani Suheila, östlich von Chan Younis
Ich will mich an diesen Tag nicht erinnern
19 Menschen getötet
ZU EHREN DES MANNES, DEN ICH NICHT VERGESSEN KANN
AUS DEN ERINNERUNGEN VON ANNE PAQ, GESCHRIEBEN MIT ALA QANDIL UND DYLAN COLLINS
Nach einer Woche Berichterstattung über die israelische Offensive im Gazastreifen hatte mein Körper auf Autopilot geschaltet: Equipment nehmen, einen höher gelegenen Punkt suchen, hochklettern, Kamera ruhig halten, dokumentieren. Und natürlich die Menschen nach ihren Namen fragen – oft war es nicht möglich, viel mehr zu bekommen als das. Oft musste ich mich entscheiden, ob ich noch einige Fotos machen will oder denjenigen nachrenne, die ich gerade fotografiert hatte. Ich hoffte, sie würden mir ihre Namen nennen, trotz der vielen überstürzten Beerdigungen, der Hektik auf den Krankenhausfluren, den mit Leichen, Blut, Schweiß und den Tränen der Hinterbliebenen befleckten Leichenhallen. In den Krankenhäusern bekamen wir meist Nachrichten über die letzten Angriffe. Im Krankenhaus von Chan Younis, ganz im Süden des Gazastreifens fanden wir heraus, in welchem Ausmaß Tod und Zerstörung das Dorf Khuza’a getroffen hatte:
Der Innenhof des Krankenhauses war voller Menschen, die es geschafft hatten aus Khuza’a zu fliehen, einem belagerten Dorf in der Nähe. Krankenwagen kamen kaum durch die Menschenmenge. Manche weinten, andere schrien und jeder versuchte, die Sanitäter in den ankommenden Krankenwagen nach Verwandten zu befragen. Viele Überlebende mussten fliehen und verletzte und tote Familienmitglieder zurücklassen. Sie erzählten uns von Dutzenden Toten, von Menschen, die noch immer im Bombenhagel gefangen waren; von Krankenwagen, die nicht zu den Verletzten vordringen konnten, von den vielen zerstörten Häusern ihres Dorfes.
Es war Ende Juli und wir ahnten noch nicht einmal ansatzweise das volle Ausmaß der Zerstörung und des Todes, das israelische Panzer, Artillerie, Bodentruppen und Luftwaffe in Gazas Grenzgebieten wie Khuza’a angerichtet hatten. Als die Kämpfe intensiver wurden, erklärte das israelische Militär die Außengrenzen des Gazastreifens zu „abgeschotteten Kampfzonen“. Die Einwohner, die mehrheitlich fliehen mussten, genauso wie Ärzte und Journalisten, durften das Gebiet nicht betreten. Die Intention dahinter, bemerkte die unabhängige UN Untersuchungskommission, war „dass die Menschen, die in dem Gebiet verblieben waren nicht länger als Zivilisten betrachtet wurden und somit auch nicht mehr vom Schutz profitierten, der ihnen unter dem Status „Zivilist“ zusteht.“
Es war Ende Juli und wir ahnten noch nicht einmal ansatzweise das volle Ausmaß der Zerstörung und des Todes, das israelische Panzer, Artillerie, Bodentruppen und Luftwaffe in Gazas Grenzgebieten wie Khuza’a angerichtet hatten. Als die Kämpfe intensiver wurden, erklärte das israelische Militär die Außengrenzen des Gazastreifens zu „abgeschotteten Kampfzonen“. Die Einwohner, die mehrheitlich fliehen mussten, genauso wie Ärzte und Journalisten, durften das Gebiet nicht betreten. Die Intention dahinter, bemerkte die unabhängige UN Untersuchungskommission, war „dass die Menschen, die in dem Gebiet verblieben waren nicht länger als Zivilisten betrachtet wurden und somit auch nicht mehr vom Schutz profitierten, der ihnen unter dem Status „Zivilist“ zusteht.“
Am 26. Juli, zwei Tage nachdem wir die Überlebenden aus Khuza’a getroffen hatten, kam beim Aufwachen die Nachricht eines eintägigen Waffenstillstandes. Wie immer, wenn eine kurze Feuerpause angekündigt wurde, eilten wir mit den anderen Journalisten und Fotografen zu den Gegenden, die am härtesten getroffen waren und zuvor wegen Beschuss und Luftangriffen unzugänglich gewesen waren. Auf dem Weg nach Khuza’a quetschten wir uns mit all unserer Ausrüstung in zwei Autos, Aufkleber mit „TV“ auf der Motorhaube, die kaum ein Gefühl von mehr Sicherheit boten. Wir rasten die Salah ad-Din Straße hinunter, die den Gazastreifen von Nord nach Süd durchquert. Unsere palästinensischen Kollegen Tony und Mohammed fuhren mit höchster Aufmerksamkeit, sich der Gefahren der Route nur zu bewusst. Erst später fanden wir heraus, dass gelangweilte israelische Soldaten sich damit beschäftigt hatten, auf derselben Route Autos von Zivilisten ins Visier zu nehmen.
Als wir die Außenbezirke Khuza’as erreichten, bemerkten wir eine Flotte von Krankenwagen und folgten ihnen in das nahe gelegene Dorf Abasan Kabira. Wir trafen auf eine Menschenmenge. Sie hatten die Feuerpause ebenfalls genutzt, um zurückzukehren. Sie warteten ungeduldig auf Hilfe, noch immer unter Schock, nachdem sie die Schutthaufen gesehen hatten, die von ihren Häusern übrig waren. Sie riefen uns zu: „Kommt hier her, fotografiert das. Die Welt muss sehen, was geschehen ist.“ Als wir in den Hof eines Eckhauses kamen, sahen wir ein verbranntes menschliches Bein, von Maden durchsetzt. Sanitäter breiteten eine Plastikplane aus und sammelten die menschlichen Überreste ein. Die Luft war voll von dem unverwechselbaren Geruch von verbranntem und verrottendem Fleisch: es war abstoßend, widerlich und absolut unmöglich zu vergessen.
26. JULI, ABASAN KABIRA.
Palästinenser nutzten den Waffenstillstand zur Rückkehr in ihre Dörfer, um nach ihren Häusern zu sehen und Wichtiges einzupacken – Medizin, Gas zum Kochen, Dokumente. Während sie ungeduldig auf Hilfe warteten, noch immer schockiert vom Anblick ihrer zu Ruinen zerbombten Häuser, riefen sie uns zu: „Kommt hier her, fotografiert das. Die Welt muss sehen, was geschehen ist.“
Am Eingang nach Khuza’a trafen wir auf eine andere Gruppe Menschen. Sie hatten Angst – Furcht lag greifbar in der Luft. Die Waffenruhen waren nervliche Höllen für die Menschen in Palästina. Während dieser kurzen Kampfpausen kamen die Bewohner so schnell wie möglich in bombardierte Gebiete, in dem verzweifelten Versuch, so viel Eigentum wie möglich zu retten und vermisste Angehörige zu suchen – aber in dem Wissen, dass die Bombardierung jederzeit wieder einsetzen könnte. Einige Dutzend Palästinenser standen auf der Hauptstraße. Sie warnten uns davor, weiter zu gehen. Aus einem Versteck hinter einem Schutthaufen sahen wir Panzer und erhaschten Blicke auf israelische Soldaten. Eine Gruppe Dorfbewohner, die verzweifelt nach zurückgelassenen Familienmitgliedern in dem abgeriegelten Dorf suchten, versuchte näher zu kommen. Aber noch bevor sie den Dorfeingang erreichten, eröffneten die Soldaten das Feuer. Alle auf der Straße brachten sich in Sicherheit, auch wir.
Am Rand von Khuza’a, dort begannen die Soldaten auf die Einwohner zu schießen, als sie versuchten ihre Häuser zu erreichen. Die Menschen wollten verzweifelt zu den Eingeschlossenen in dem belagerten Dorf: Zwei Männer gingen mit erhobenen Händen über die offenen Felder, trotz des Risikos, erschossen zu werden.
« Si mêmes vous vous fuyez, qu’est-ce que nous sommes censés faire ? » nous sermonne un villageois. « Vous avez vos gilets pare-balles et vos casques. Vous êtes des étrangers. Ils ne vous tireront pas dessus. » Nous baissons les yeux.
Plus tard en revoyant mes photos de ce jour-là, j’ai zoomé sur l’image : on y voit un soldat israélien debout au loin, quelques secondes avant les tirs. Il sourit.
DIE BEERDIGUNG
Als wir Khuza’a verließen, trennten wir uns. Ein Teil der Gruppe fuhr nach Norden um zu sehen, was von Shuja’iyya, das einige Tage zuvor von den Israelis in Schutt und Asche gebombt worden war, übrig war. Ich blieb zurück. Noch immer nahe Khuza’a, in dem Dorf Bani Suheila, kam ich zu einer Beerdigungsprozession. Ohne nachzudenken sprang ich aus dem Auto und kletterte auf einen geparkten Lastwagen. Menschen strömten die Straße hinab, sie trugen eine ganze Reihe an Leichen, ihre weißen Leichentücher rot verfärbt. Ich hörte bald auf zu zählen, ich war wieder auf Autopilot.
Die Leichen von Hussein al-Najjars Frau und zwei Kindern waren gerade an mir vorbeigetragen worden und er saß am Ort des Luftangriffes. Er war einer von nur drei Überlebenden. Husseins dreistöckiges Haus, in dem sich 22 Familienmitglieder lebten, war nachts getroffen worden. Mit einem Verband über dem Auge und offensichtlich noch unter Schock sah er aus, als ob er mit einem Fuß im Grab stand und mit dem anderen vorsichtig noch in der Welt der Lebenden. Er stolperte über seine Worte als er versuchte zu erzählen, was geschehen war. Er listete die Familienmitglieder auf, die getötet worden waren: seine Onkel, seine Brüder und ihre Frauen … eine Verwandte half ihm: „Deine Frau und deine Kinder.“ Hussein, zu Boden starrend, wiederholte: „Meine Frau und meine beiden Söhne.“ Zu diesem Zeitpunkt war er noch nicht einmal sicher, wie viele Menschen getötet worden waren.
Während wir sprachen, kam Husseins Schwester Mona leise dazu. Sie setzte sich ihm gegenüber, eine Hand auf seinem Knie, brach in Tränen aus und redete unverständliche Worte. Da brach auch Hussein zusammen und ich zog mich zurück.
Die Zeit danach
Die Erinnerung an Husseins Gesicht, der Schock und das Grauen in seinen Augen, das ließ mich nie mehr los. Als ich vier Monate später nach Gaza zurückkehrte, suchte ich nach ihm. Ich war mir nicht einmal sicher, wie sein voller Name war – war es Hussein oder Samir? Al-Najjar ist in der Gegend ein sehr häufiger Name und einige Familien dieses Namens hatten unter den israelischen Angriffen gelitten. Bei einem Glas süßem Tee erklärte ich es einer dieser Familien noch einmal: ich suchte einen Mann, der seine Ehefrau Riham, zwei Kinder und viele andere Familienmitglieder bei einem einzigen Luftangriff verloren hatte. Das Foto, das ich bei mir trug half schließlich, ihn zu finden.
Als wir uns am Ort der Katastrophe trafen, erinnerte sich Hussein Samir al-Najjar zögerlich noch einmal daran, was geschehen war. Er erzählte mir, dass am Tag des Bombardements zwei seiner Kinder – Hussam, 7 und Olfat, 4 – unbedingt bei ihrer Tante Mona übernachten wollten: dieser Zufall rettete ihr Leben.
Nachdem er nach Hause zurückgekehrt war und seine anderen Kinder zu Bett gebracht hatte, begann Hussein das Morgengebet vorzubereiten. In diesem Moment feuerte ein israelischer Pilot eine Rakete auf sein Haus. Die Kraft der Explosion schleuderte ihn aus dem Haus. Er landete bewusstlos in einem Baum in Dutzenden Metern Entfernung. Hussein, sein Bruder Mohammed und ihr Onkel Suleiman waren die einzig Überlebenden.
Seit dem Angriff wohnen Hussam und Olfat, die überlebenden Geschwister, bei einer weiteren Tante, in einem winzigen Haus genau neben dem Krater, wo einst ihr zuhause stand. Noch Monate nach dem Angriff werden die Kinder ständig an ihren Verlust erinnert. Olfat wacht nachts auf, weint und verflucht den Himmel, denn dort, erzählt man ihr, ist ihre Mutter jetzt. Hussam hört nicht auf zu fragen, wann er sie wiedersehen kann. Hussein antwortet manchmal: „Morgen, Morgen kommt sie zurück.“
Ich stand mit Mohammed, Husseins Bruder, am Rande des Kraters. Er wollte sprechen. „Warum willst du nur Hussein zuhören?“ Ich hatte mich auf Hussein konzentriert, weil ich ständig an ihn denken musste, nachdem ich Gaza mitten in der sommerlichen Offensive verlassen hatte. Mohammed erzählte mir, wie sein Arm in der Explosion an der Wand festschmolz und wie er, trotz seiner schweren Verletzungen, aus dem Krankenhaus floh als er hörte, was seiner Frau und seinem 18 Monate alten Kind Ghalia geschehen war. Er erzählte, wie er in die Leichenhalle rannte, um sich verabschieden zu können.
Das Foto
Als ich abfuhr, wollte ich Hussein das Foto geben, durch das ich ihn wiedergefunden hatte. Er wollte es nicht. „Ich will mich an diesen Tag nicht erinnern.“ sagte er, während er den Boden anstarrte und die Schultern hängen ließ. Ich schämte mich und verfluchte mich selbst. Ich hatte das Gefühl, für einen kurzen Moment das zerbrechliche Gleichgewicht verloren zu haben zwischen dem Zeigen der Tragödie und der Verstärkung des Leids der schon schwer geprüften Menschen. Ein unablässiger Strom an Menschen – Journalisten, Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen, Menschenrechtsaktivisten – will, dass die trauernden Palästinenser sich an die schmerzlichsten Dinge erinnern. Jeder will Aussagen zu den Angriffen, ein Stück Intimität der Menschen, persönliche Details…. Drei israelische Offensiven innerhalb von sechs Jahren haben die Palästinenser in Gaza vorsichtig gemacht, wenn es um diese Fragen geht, egal wie gut sie gemeint sind.
Ein Jahr danach
Husseins Blick drückt den Schmerz und das Trauma ganz Gazas aus: derer, die Freunde, Familienmitglieder, Nachbarn und Kollegen in den Angriffen des letzten Sommers verloren haben. Als ich mir die Bilder mehr als ein Jahr später in der Redaktion in Berlin ansehe, kann ich nur weinen. Ich will, dass andere Menschen das auch sehen. Ich will, dass sie davon wissen und vielleicht wenigstens für den einen Moment verstehen.
Menschen, die bei dem Angriff in Bani Suheila, östlich von Chan Younis ums Leben kamen
26 Juli 2014
SAMIR HUSSEIN MOHAMMED AL-NAJJAR (52)
GHALIA MOHAMMED AHMED AL-NAJJAR (56, SAMIRS EHEFRAU)