Familie Maadi Rafah

Scheiß’ auf das Haus

6 Menschen getötet

WARNUNG: DIESES KAPITEL ENTHÄLT VERSTÖRENDE BILDER

Zakiya Maadi wachte von ihrem Nachmittagsschläfchen auf. Das Haus vibrierte gewaltig und der Raum füllte sich mit Rauch, Schutt und Staub. Blut tropfte von ihrem Kopf, aber sie schaffte es, sich von den Trümmern zu befreien und rannte die Treppe herunter, um nach den anderen zu sehen. Auf dem Weg nach unten hörte sie schon ihre Kinder schreien, dass Ismail, ihr Sohn tot wäre. Sie konnte nichts tun außer die anderen zu finden, die noch lebten und denen geholfen werden konnte.

Zakiya Maadi, Mutter von sieben Söhnen und vier Töchtern, in den Ruinen ihres zerbombten Hauses.

Wenn er seinen Namen hört, schaut Ismail auf. Er sitzt auf einer dünnen Matratze, in der Ecke des Wohnzimmers, in dem sich die Familie ein Jahr nach der Attacke versammelt, um von den Ereignissen des schwarzen Freitages zu erzählen. Obwohl alle dachten er sei tot, konnten die Nachbarn Ismail retten, der nun 20 Jahre alt ist. Sein Schädel war zertrümmert und er behielt Nervenschädigungen zurück. Ismail musste die Schule abbrechen, an der er zum Mechaniker ausgebildet wurde. Jetzt wartet er darauf, dass der Grenzübergang Rafah geöffnet wird, damit er Gaza verlassen kann, aber er hat kaum Hoffnung, dass das bald geschehen wird. Salem, Zakiyas Ehemann und Vater der Familie fragt Ismail etwas, aber sein Sohn wirkt abwesend. Salem wiederholt die Frage, aber der Junge antwortet nicht.

Direkt nach der Bombardierung dachten alle, Ismail sei tot. „Sein Schädel war zertrümmert, er war klinisch tot.“ sagt sein Bruder Mohammed. Ismail erholt sich noch immer. „Ihm geht es besser, aber er braucht eine weitere Operation am Bein.“ fügt seine Mutter hinzu.

Ismails jüngerer Bruder Mohammed brach die Schule ebenfalls ab. „Der Junge ist daran zerbrochen“ sagt Salem und fügt hinzu, dass er kurz vor seinen Abschlussklausuren abbrach. „Ich habe mein ganzes Leben in dem Haus verbracht“ sagt Mohammed, „aber scheiß auf das Haus.“ Zakiya weist ihn zurecht, allerdings mit einem nachsichtigen Lächeln. Ihr ist dieser Ausbruch vor Fremden unangenehm, aber sie versteht ihn. Sie macht eine Geste, mit der Hand am Kopf, als ob sie andeuten wollte, dass ihr Sohn nicht mit sich im Reinen ist. „Ist mir egal, sie können das Haus zerstören, ich will nur, dass mein Bruder und seine Mädchen leben“ fährt er fort.

„Der Junge ist daran zerbrochen.“
SAGT SALEM, MOHAMMEDS VATER.

„Der Junge ist daran zerbrochen.“

SAGT SALEM, MOHAMMEDS VATER.

Mohammed spricht von seinem Bruder Bassam, seiner Frau Iman und ihren zwei Töchtern Hala und Jana. Zwei weitere Mitglieder der Familie Maadi wurden bei dem Luftangriff getötet: der zweijährige Yousef, Sohn von Mohammeds Bruder Ahmed und Suleiman, Mohammeds Onkel, der eine Woche nach dem Angriff in Ägypten starb, wohin er zur Versorgung seiner Verletzungen gebracht worden war.

Fotos von Zakiyas Sohn Bassam, seiner Frau Iman und ihren beiden Töchtern Hala und Jana. Zwei weitere Familienmitglieder starben bei diesem Luftangriff: der zweijährige Yousef, Zakiyas Enkel und Suleiman, Zakiyas Schwager, der eine Woche nach dem Angriff im Krankenhaus in Ägypten starb, wo er zur Behandlung hingebracht wurde.

Fotos von Zakiyas Sohn Bassam, seiner Frau Iman und ihren beiden Töchtern Hala und Jana. Zwei weitere Familienmitglieder starben bei diesem Luftangriff: der zweijährige Yousef, Zakiyas Enkel und Suleiman, Zakiyas Schwager, der eine Woche nach dem Angriff im Krankenhaus in Ägypten starb, wo er zur Behandlung hingebracht wurde.

Zakiya ist 58 Jahre alt, aber sie sieht viel älter aus. Sie sagt, sie seien alle müde und das zeigt sich in allen Gesichtern, in ihren Stimmen, in den abwesenden Blicken, aber auch in der Schwere ihrer Bewegungen, als ob ihre Arme und Beine aus Blei wären. Es scheint, als hätten sie aufgegeben und lebten nur noch aus Mangel an Alternativen weiter. Die Aussicht auf ein neues Haus hat sie alle nicht aufgemuntert, sie scheinen den Bauarbeiten gegenüber nahezu gleichgültig.

Familie Maadi war eine von nur wenigen Familien, die ihr Haus nach der israelischen Offensive wieder aufbauten. Sie gehören zu etwa 300 Familien, die das Nationale katarische Komitee zum Wiederaufbau Gazas unterstützt. Im Gegensatz zu ihnen warten die meisten anderen Menschen, deren Häuser bombardiert wurden noch heute darauf, dass wieder Baumaterial in den Gazastreifen importiert werden darf.

Sie kommen auf die Geschichte zurück. Es war Freitag, der 1. August, der Tag, der später als Schwarzer Freitag bekannt werden würde. Ein Waffenstillstand sollte um 8 Uhr morgens beginnen. Stattdessen wandte die israelische Armee die Hannibal-Direktive an, um der Entführung eines israelischen Soldaten entgegenzuwirken.

ERFAHREN SIE MEHR ÜBER DEN SCHWARZEN FREITAG

An diesem Tag brach in Rafah die Hölle los. Trotzdem fühlte sich die Familie Maadi sicher, denn ihr Haus lag außerhalb der Zone, in der die meisten Bomben fielen. An diesem Freitag befanden sich 31 Menschen ihn ihrem Haus. Zakiya und Salem hatten am selben Tag noch eine ihrer Töchter angerufen und sie gebeten zu kommen, weil sie dachten, ihr Haus sei sicherer. Sie kam mit ihren Kindern und die ganze Familie aß gemeinsam zu Mittag. Danach saßen die Frauen im Haus und unterhielten sich, die Männer taten das gleiche draußen. Nur Bassam ging wieder hinein, um bei seiner Frau und den Kindern zu sein. Iman war schwanger: sie erwarteten Zwillinge.

Bassam hatte einen Universitätsabschluss, aber seine Leidenschaft war die Landwirtschaft. Er arbeitete auf einem Bauernhof in Rafah. Seine Arbeit ähnelte der seines Vaters: Während der 70er und 80er Jahre, als die israelische Landwirtschaft stark von billigen palästinensischen Arbeitskräften abhing, hatte Salem auf israelischen Bauerhöfen Gemüse geerntet. Bassam hatte seine Stelle seit 18 Jahren. Er stand jeden Morgen vor 6 Uhr auf und kam erst nach Sonnenuntergang zu Iman und ihren zwei Töchtern Hala und Jana zurück. Auf dem Nachhauseweg ging er immer bei seinen Eltern vorbei, brachte ihnen Lebensmittel und sah nach ihnen. Zakiya lächelt als sie erzählt, dass Bassam der ruhigste ihrer sieben Söhne und vier Töchter mit Salem war. Bassam war liebenswürdig, aber er war gerne alleine, oder bei den Schafen und Enten, die die Familie hielt.

An diesem Freitag versammelten sich viele von Salems und Zakiyas Söhnen, Töchtern und Enkelkindern in ihrem großen Haus. Doch die F16 Kampfflugzeuge über ihrem Kopf waren unmöglich zu ignorieren, genauso wie das Echo des Artilleriebeschusses. Einer der Onkels begann zu sinnieren, wie viele ihrer Angehörigen in diesem Krieg wohl sterben würden. In diesem Moment fiel die Bombe.

Trümmer des Hauses der Maadis.

Trümmer des Hauses der Maadis.

VIER KRANKENHÄUSER

Nachbarn kamen zur Hilfe, trotz der Gefahr eines zweiten Angriffs. Zakiya und Bassams Frau Iman mit ihren beiden Töchtern wurden auf einem Lastwagen zum Krankenhaus gefahren. Als sie das al-Najjar Krankenhaus erreichten, die größte medizinische Einrichtung Rafahs, wurde Zakiya von den anderen getrennt. Sie stand unter Schock, Blut rann noch immer von ihrem Kopf, aber sie verlangte, dass ihre Enkelinnen zuerst behandelt würden. Zakiya sah mehr Leichen auf dem Boden als Lebende. Sie rannte durch die Flure voller Toter und Verletzter und suchte ihre beiden Enkelinnen. Menschen hielten sie auf und machten sie auf ihre Verletzung aufmerksam. Es war ihr egal. Die Ärzte sagten zu ihr „Wir müssen evakuieren. Ob sie rennen können oder nicht, wir haben keine Zeit.“ Das Krankenhaus musste schließen und Patienten und medizinisches Personal evakuieren, da die Gefahr bestand, unter israelisches Feuer zu geraten. In Panik flohen Menschen, als die Bombeneinschläge näher kamen. Die Leichen ihrer Schwiegertochter  und ihrer Enkelinnen wurden in einem Krankenwagen zu einem anderen Krankenhaus gebracht. Zakiya floh, wie alle anderen.

 Fotos des schwarzen Freitags, Privat-Fotos.

Fotos des schwarzen Freitags, Privat-Fotos.

Als die Bombe das Haus der Maadis traf, war die Hannibal-Direktive in vollem Gange. Krankenwagen waren damit beschäftigt, Menschen aus dem Südosten Rafahs zu bergen. Keiner hatte erwartet, dass ein Haus so weit von der Kampfzone entfernt getroffen werden würde. Es dauerte mehr als 20 Minuten, bis die Sanitäter eintrafen. Das Auto eines palästinensischen Fernsehsenders, das in der Gegend war, begann Menschen ins Krankenhaus zu bringen. Salem, sein Enkel Yousef und Bassam waren in diesem Fernseh-Auto, als der Fahrer von der Evakuierung des al-Najjar Krankenhauses hörte, in dem Zakiya war. Er fuhr stattdessen zum kuwaitischen Krankenhaus.

Salem hielt seinen Enkel Yousef an sich gepresst als sie ankamen. Das kuwaitische Krankenhaus war nicht auf so viele Verletzte vorbereitet, sie hatten nur zwei Plätze in der Notambulanz. Es gab kein Bett für Yousef. „Ich war inmitten meiner Familie, alle verletzt, manche fast tot.“ erinnert sich Salem. Yousef und Bassam wurden in das europäische Krankenhaus gebracht. Salem und Zakiya wollten ihnen folgen, doch die Straße war gesperrt, das Krankenhaus lag zu nah am Kampfgebiet. Bassam starb um 2 Uhr früh, Yousef noch vor ihm. „Sie sagten mir, ich solle nach Hause gehen. Aber ich hatte kein Zuhause mehr.“ Salem gab schließlich auf. Erst als er zurückfuhr und an dem Schutthügel vorbei kam, der einst sein Haus war erkannte er, dass sie das Hauptziel gewesen waren.

„Ich habe dieses Haus 1986 für meine Kinder gebaut“ sagt Salem. Er arbeitete in der israelischen Landwirtschaft, um Geld für das Haus zu sparen. Ein Jahr nach der Bombardierung sind die Trümmer geräumt und ein neues Haus wird auf dem angrenzenden Grundstück erbaut.

„Ich habe dieses Haus 1986 für meine Kinder gebaut“ sagt Salem. Er arbeitete in der israelischen Landwirtschaft, um Geld für das Haus zu sparen. Ein Jahr nach der Bombardierung sind die Trümmer geräumt und ein neues Haus wird auf dem angrenzenden Grundstück erbaut.

KÜHLRÄUME FÜR LEBENSMITTEL

Die Überreste der Verstorbenen mussten an verschiedene Orte gebracht werden. Die Leichenhallen waren so voll, dass die Krankenhäuser mit Besitzern von Gemüse- und Eiscreme-Kühlräumen verhandeln mussten, um sie in provisorische Leichenhallen für die Toten des Schwarzen Freitages zu verwandeln.

Die Leichen Imans, Halas und Janas wurden in eine kleine Hütte in einen abgelegenen, landwirtschaftlichen Teil Rafahs geschickt, in einen Kühlraum für Blumen, noch übrig von Gazas einst blühendem Exporthandel mit frischen Schnittblumen. Es war kein Tiefkühlraum, aber besser als das, was die Krankenhäuser zu dem Zeitpunkt anbieten konnten: ein normales Zimmer, der Boden voller Leichen, die Ventilatoren voll aufgedreht in dem vergeblichen Versuch, den Verwesungsgeruch zu vertreiben.

Die Familie wollte Yousef, Bassam, Iman, Hala und Jana gemeinsam beerdigen. Zwei Tage nach dem Angriff, an einem Sonntag, wurden die Leichen Yousefs und Bassams aus dem europäischen Krankenhaus überführt. Die Bombardierungen hatten seit Freitag nachgelassen, aber die Felder, auf denen die zur Leichenhalle umfunktionierte Blumenkühlhalle stand, galten als unsicher. Familie Maadi bemühte sich um eine Abstimmung, eine Art Garantie, dass die israelische Armee sie nicht unter Beschuss nehmen würde, wenn sie ihre Toten dort abholten. Salem telefonierte mit dem Roten Kreuz, wo man ihm sagte, das Militär hätte die Gegend um das Blumenkühlhaus noch nicht verlassen und man könne ihm nicht helfen. Keines der Krankenhäuser erklärte sich bereit, einen Krankentransport dorthin zu schicken.

Diese Hütte in einer abgelegenen, landwirtschaftlichen Gegend, ist eine zur Leichenhalle umgewandelte Kühlhalle für Blumen der ehemaligen Blumenindustrie Gazas. Hier lagen die Leichen Imans, Halas und Janas.

Diese Hütte in einer abgelegenen, landwirtschaftlichen Gegend, ist eine zur Leichenhalle umgewandelte Kühlhalle für Blumen der ehemaligen Blumenindustrie Gazas. Hier lagen die Leichen Imans, Halas und Janas.

„Also holten wir unsere Märtyrer selbst.“ sagt Mohammed. Alle fürchteten sich. Man spürte die Spannung in der Luft. Eine Gruppe Männer fuhr mit Mohammed im Lastwagen der Familie zu dem kleinen Blumenkühlhaus, in dem die Leichen in blutbefleckte weiße Tücher gewickelt lagen. Viele lagen auf dem Boden, einige auf den Regalen. Menschen eilten in das Kühlhaus hinein und hinaus. Der Geruch der verwesenden Leichen in der Sommerhitze war unerträglich. Mohammed nahm Janas Leiche in die Arme und ließ sie nicht mehr los, bis er sie ins Grab legen konnte.

Zakiya wacht aus einem Schläfchen auf. Ihre Söhne sind fort. Jeden Nachmittag verlassen sie das Haus und gehen zu den Gräbern ihres Bruders, seiner Frau und Töchter. Sie bat sie, nicht jeden Tag zu gehen, aber sie hören nicht auf sie.

Foto von Hala und Jana, Mohammeds Nichten, die bei dem Luftangriff gemeinsam mit ihren Eltern ums Leben kamen.

Foto von Hala und Jana, Mohammeds Nichten, die bei dem Luftangriff gemeinsam mit ihren Eltern ums Leben kamen.

Menschen, die bei dem Angriff in Rafah ums Leben kamen

1 August 2014

  • BASSAM SALIM MAADI
    33, SOHN VON ZAKIYA UND SALEM
  • IMAN NAZMI MAADI
    31, BASSAMS SCHWANGERE EHEFRAU
  • HALA BASSAM MAADI
    3, IMAN UND BASSAMS TOCHTER
  • JANA BASSAM MAADI
    2, IMAN UND BASSAMS TOCHTER
  • YOUSEF AHMED MAADI
    3, ZAKIYAS ENKELSOHN
  • SULEIMAN SALIM MAADI
    53, SALEMS BRUDER, AM 8 AUGUST 2014 IN EINEM ÄGYPTISCHEN KRANKENHAUS FÜR TOT ERKLÄRT