Familie Siyam Rafah

Sie trug mich in ihren Armen weg von Al-Abbasiyye

13 Menschen getötet

Ausgelöscht. Ihre Familie wurde ausgelöscht. Die kleine Mayar, ein lautes, pfiffiges Mädchen rennt durch das Gästezimmer, ärgert die Ziegen und verlangt mal lauthals nach Liebe und Zuneigung ihrer Großeltern Makhrous und Dalal, mal posiert sie für die Kamera. Sie versteht nur teilweise, was 2014 geschehen ist. Sie hat ihre Eltern und ihren einzigen Bruder, den damals fünfjährigen Moin verloren.

Nabil und sein Sohn Baderaddin an der Stelle, an der die Familie Siyam beschossen wurde.

Nabil und sein Sohn Baderaddin an der Stelle, an der die Familie Siyam beschossen wurde.

Auch Nabils Angehörige wurden getötet ausgelöscht, doch im Gegensatz zu seiner Nichte Mayar versteht der 36jährige nur zu gut, was geschehen ist. Er hat seine Ehefrau Shirin und vier kleine Kinder verloren: Gheidaa’, Mustafa, Abdel Rahman und Dalal. Nabil und sein nun 7jähriger Sohn Baderaddin sind die einzig Überlebenden. Beide wurden schwer verletzt, Nabils linker Arm wurde bei der Explosion abgerissen.

Es ist der dritte Tag von Eid al-Adha und Makhrous – Nabils Vater und Mayars Großvater – wünscht uns mit Tränen in den Augen ein frohes Opferfest. Für die Siyams ist es ein schwerer Tag. Es ist Tradition an diesem Feiertag, die Familie zu besuchen oder Geschwister und ihre Familien, Kinder und Enkelkinder, zu empfangen. Vor etwas mehr als einem Jahr, im Sommer 2014, wurde das Haus von Dalal und Makhrous von einer Granate getroffen. Die meisten ihrer erwachsenen Kinder waren mit den Enkeln zur Feier des Ramadan zu Besuch: insgesamt 30 Menschen. Als sich das Artilleriefeuer ihrem Haus näherte, flohen sie auf die Straße. „Als wir um unser Leben rannten, trafen uns zwei Geschosse, direkt vor dem Tor zu unserem Haus.“ sagt Dalal.

Eid

Arabisch für Fest, Feiertag. Diese beiden Eid sind die höchsten geistlichen Tage des Islam: Eid Al-Adha ist der heiligere von beiden, an ihm wird an das, durch ein Opfer hergestellte Bündnis zwischen Ibrahim und Allah erinnert. Traditionell wird dann ein Schaf oder Lamm geopfert. Der Eid el-Fitr beendet den heiligen Monat des Ramadan und ist der Beginn eines mehrere Tage andauernden Festes.

„Als die Granate das Haus traf, mussten wir um unser Leben rennen“ sagt Dalal.

„Als die Granate das Haus traf, mussten wir um unser Leben rennen“ sagt Dalal.

Am dritten Tag des Opferfestes ist das Haus der Siyams leer. Wir sprechen mit den Großeltern, während Mayar und ihr Spielkamerad Moataz herumrennen. Der Vater des kleinen Jungen, Ayman, der 2014 ebenfalls seine Ehefrau verloren hat, kommt mit Eimern voller Blumen vorbei. „Zum Opferfest“ erklärt er und sitzt ruhig in einer Ecke, während Makhrous und Dalal von den vielen Malen erzählen, die die Familie im letzten halben Jahrhundert fliehen musste.

Makhours und Dalal

„Ich bin ein palästinensischer Flüchtling aus al-Abbasiyye“, sagt Makhrous Siyam, der Muhtar der Familie Siyam. „Als ich mit der Oberschule fertig war, hatte ich schon drei Kriege erlebt.“ Heute wohnt Makhrous in Rafah, im Gazastreifen. Hier lebt eine ganze Generation von Kindern, die schon drei Kriege erlebt haben, wenn sie den Kindergarten verlassen. Er ist so alt wie die Besetzung, ein Nakba-Baby könnte man sagen. Seine Ehefrau Dalal ist gleich alt. Sie erlebten gemeinsam die ethnischen Säuberungen von 1948, auch wenn sie die Erinnerungen daran nur aus Erzählungen ihrer Eltern haben; die Invasion und die erste, kurze Besetzung des Gazastreifens durch Israel im Jahr 1956; und den Krieg im Jahr 1967, an den sie sich in allen grausamen Details erinnern.

Muhtar

Arabisch für auserwählt. Oberhaupt eines Dorfes oder Stadtteils oder einiger Großfamilien. Normalerweise durch Konsens gewählt oder bestätigt. Der Muhtar übernimmt Aufgaben des öffentlichen Lebens im Dorf, darunter die Schlichtung von Konflikten zwischen den Einwohnern, die Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit usw.

Nakba

Arabisch für Katastrophe oder Unglück. Bezieht sich auf die Vertreibung von etwa 700.000 Palästinensern aus ihrer Heimat durch israelische Milizen vor und während des Krieges von 1948, der zur Gründung des Staates Israel führte. Palästinensische Flüchtlinge durften nie zurückkehren und hunderte ihrer Dörfer wurden zerstört.

„Wann wir geheiratet haben?“ Zuerst lachen sie bei der Frage. Aber als sie in ihren Erinnerungen nach Daten wühlen, sagt Makhrous, es war im Jahr nach dem Sechstagekrieg. „Ja, wir haben 1968 geheiratet. Dalal war meine Nachbarin.“ Die israelischen Offensiven durchziehen ihre Erinnerung und werden zu Referenzpunkten.

„Ich wurde in dem Jahr geboren, als die Nakba begann. Im Jahr des Sechstagekrieges habe ich die Oberschule beendet. Im Jahr danach haben wir geheiratet.“ „Es ist schwer, sich zu erinnern. Märtyrer, Märtyrer, Märtyrer, zu viele in meinem Leben, so viele, dass sie mich vergessen ließen, wie viele Jahre vergangen sind“ fügt Dalal hinzu.

Märtyrer

Auf Arabisch shahid. Im palästinensischen Kontext spricht man von Märtyrern, unabhängig vom Glauben oder der Religiosität einer Person, wenn sie durch die israelische Besatzung ums Leben kam. Normalerweise ist ein Märtyrer jemand, der willig ist, für seinen Glauben oder seine Überzeugung zu sterben. Der Ausdruck shahid kann im Islam ganz verschiedene Umstände berücksichtigen, auch den Tod durch Naturkatastrophen oder der Tod einer Frau im Kindsbett.

Unter britischem Mandat

Nach dem ersten Weltkrieg wurde Palästina britisches Mandatsgebiet, nachdem es zuvor 400 Jahre lang Provinz des Osmanischen Reiches gewesen war. Das Völkerrechtsmandat zog klare Grenzen um Palästina und gab der britischen Administration zwei sehr widersprüchliche Aufgaben: einerseits für die heimische Bevölkerung sorgen, und andererseits die Errichtung eines jüdischen Heimatlandes auf diesem Hoheitsgebiet.

„Wie haben sich meine Eltern kennengelernt? Mein Vater war schon verheiratet und hatte erwachsene Söhne. Einer von ihnen wollte heiraten. Also ging mein Vater zu einer bestimmten Familie und fragte, ob ihre Tochter seinen Sohn heiraten würde. Doch als er die Frau sah, mochte er sie sofort und fragte, ob sie seine Zweitfrau werden wolle. Das war meine Mutter. Und mein Halbbruder heiratete ihre Schwester.“ erzählt Makhrous.

„Eines Tages verkauften sie ein Stück Land, das sie in Rafah hatten und zogen in Richtung der Ebene an der Küste. Sie zogen in das Dorf al-Abbasiyye: dort war das Leben angeblich einfacher. Wisst ihr, es ist wie heute: die Leute wandern nach Kanada oder Australien aus, aber vorher verkaufen sie all ihre Besitz, und schließlich werden sie Bürger ihres neuen Landes. Wann das war? Hmm, war es 1943? Ich bin mir nicht sicher, welches Jahr es genau war. In den frühen 1940er Jahren.“

Warum wollten Makhrous Eltern Rafah verlassen?

Britische Steuerregeln, die in den frühen 1940er Jahren erlassen wurden, zwangen viele verarmte Landbesitzer ihr weniges Land zu verkaufen und vom Land in die Städte zu ziehen, um sich andere Arbeit zu suchen [Palestinian Village Histories: Geographies of the Displaced, by Rochelle Davis, S. 110].

„Ich bin ein Flüchtling aus Palästina. Dass meine Eltern aus Rafah kommen ändert nichts. Viele Menschen kamen nach Palästina – aus Syrien, Ägypten, der Türkei. Jeder, der in Palästina geboren wurde wird dir sagen, dass er Palästinenser ist. Also bin ich auch ein palästinensischer Flüchtling. Natürlich hast du Recht, Gaza gehört zu Palästina. Aber das Palästina, von dem ich spreche, gibt es jetzt nicht mehr.“

„Nein, sie besaßen kein Land in al-Abbasiyye. Während des Völkerrechtsmandats arbeiteten meine vier Onkels und mein Vater als Holzfäller für die britische Armee. Damals war das harte Arbeit, es gab noch keine Motorsägen. Sie haben auch Elektrizitäts- und Telefonleitungen verlegt. Die Briten brauchten viel Holz.“

Warum sind die Bäume fast vollständig aus Palästina verschwunden? 

Während des Völkerrechtsmandats war Palästina von importiertem Holz aus Europa und Asien abhängig. Während des Zweiten Weltkrieges versiegten diese Importe, und die Nachfrage nach Holz stieg: „Eine Situation, die durch steigende Nachfrage nach Lebensmitteln und hohe Preise verschlimmert wurde, denn die führten auch zu mehr Rodung und Bepflanzung. Die Britische Armee, die im Land stationiert war, war der größte Holzverbraucher, besonders das königliche Ingenieurskorps; dann folgten Streichholz- und Sperrholzfabriken.“ erklärt Roza I.M. El-Eini in dem Buch „Mandated Landscape: British Imperial Rule in Palestine 1929 – 1948.“  Eine eigene Verwaltungsbehörde wurde in den frühen 1940er Jahren eingesetzt, um die Wälder zu schützen. Eine Abteilung zur Nutzung „schätzte beunruhigenderweise, dass Palästinas Wälder innerhalb von 18 Monaten vollständig dezimiert sein würden“ fügt der Autor hinzu.  

Ihr Haus war nicht aus Stein. Sie bauten eine Hütte aus Aluminium. Wegen der britischen Planungsvorschriften war es schwierig, Baumaterial oder eine Baugenehmigung zu bekommen.

Nakba: das Unglück

„Mein Vater war noch jung, als 1947 der Krieg ausbrach.“

Am 13. Dezember 1947 attackierte die israelische Miliz Irgun al-Abbasiyye und andere Dörfer in der Gegend. 24 Männer, zur Tarnung in britischen Armee-Uniformen, drangen in das Dorf ein, deponierten Sprengsätze in manchen Häusern und warfen Granaten auf andere, während ein weiterer Teil der Gruppe das Feuer auf Dorfbewohner eröffnete, die in einem Café saßen. Sie ließen ein Auto zurück, das im Dorf explodierte. Mindestens 14 Menschen wurden nach dieser Attacke als getötet gemeldet.

Was geschah in al-Abbasiyye und mit seinen Bewohnern in den folgenden Monaten?

Das Dorf wurde im Februar 1948 wieder angegriffen. Ende April übernahm die Hagana (eine jüdische Miliz und Vorläufer der israelischen Armee) die Kontrolle über das Gebiet. Am 3. Mai 1948, mitten in der Nacht, griff die bewaffnete jüdische Gruppe Irgun das Dorf an und besetzte es. Sie zwangen die 6500 Dorfbewohner es zu verlassen. Später im selben Jahr wurde das Dorf teilweise zerstört, einzige Zeugen des einstigen Dorfes Al-Abbasiyya/Yahudiya sind die Moschee, ein Schrein und die wenigen Häuser, die heute zu dem gehören, was man das „alte Yehud“ nennt – der jüdische Namen der israelischen Siedlung, die auf den Trümmern erbaut wurde. 

Expulsion of the Palestinian villagers from al-Faluja, 30 km northeast of Gaza city, 1949. Photo source: UNRWA archives.

Dies war der Beginn der ethnischen Säuberungen in Palästina. Die Vertreibungen erreichten ihren Höhepunkt im Frühjahr und Sommer 1948, aber sie gehen in verschiedenen Formen bis heute weiter. Makhrous und seine Familie gehörten zu den etwa 700 000 Palästinensern, die von den neu entstehenden israelischen Kräften vertrieben wurden und denen es verboten wurde, jemals in ihre Heimat zurückzukehren.

„Meine Mutter war stark. Sie trug mich in ihren Armen, lief den ganzen Weg von al-Abbasiyye bis nach Rafah.“

Während Makhrous Eltern und ihre Familie in Rafah darauf warteten, nach al-Abbasiyye zurückkehren zu können, siedelten sich etwa 4000 jüdische Siedler in ihrem früheren Dorf an. Dutzende ethnisch gesäuberte Dörfer sollten neue Heimat der Juden werden, die aus Europa und dem nahen Osten kamen. Ihre Anwesenheit war eine Garantie dafür, dass die ursprünglichen Bewohner nicht zurückkehren würden und ein Argument für Israels Territorialansprüche in künftigen Verhandlungen.

NAKBA 1947-49

RICHTUNGEN, IN DIE PALÄSTINENSER WÄHREND DER NAKBA FLOHEN
ROUTE VON MAKHROUS ELTERN, NACHDEM SIE IHR DORF VERLASSEN MUSSTEN

Erfahren sie mehr über die Nakba.

 

„In Rafah lebten wir in einem Flüchtlingslager, in Block A. Fünf Jahre lang, mit acht Leuten in einem Zelt und alle abhängig von den Hilfspaketen der UN. Erst in den 1950er Jahren begann die UN, Häuser zu bauen. Sehr nah beieinander, die Menschen lebten beengt. Viele Familien teilten sich ein Bad. Die Bedingungen waren grauenhaft. Nach einiger Zeit bauten sie Schulen und Krankenhäuser.“

Während die jüdischen Immigranten, die in die Häuser der Palästinenser zogen oft versuchten, sich so schnell wie möglich niederzulassen, auch ermutigt vom Staat, wollten die Palästinenser in den Flüchtlingslagern keine Wurzeln schlagen. Jahrelang gab es keine Versuche, eine permanente Infrastruktur einzurichten, denn viele dachten, sie könnten innerhalb weniger Wochen zurückkehren.

Überreste des Dorfes al-Abbasiyye, in Yehud: Die jüdische Stadt wurde auf den Trümmern des zerstörten palästinensischen Dorfes errichtet, 2010. Foto: Deborah Bright.

Überreste des Dorfes al-Abbasiyye, in Yehud: Die jüdische Stadt wurde auf den Trümmern des zerstörten palästinensischen Dorfes errichtet, 2010. Foto: Deborah Bright.

1967 DER SECHSTAGEKRIEG UND DIE ISRAELISCHE BESETZUNG DES GAZASTREIFENS

Makhrous: „Möchtest du etwas Kaffee?“

Dalal: „Nein, nein, ich darf nicht, wegen meines Blutdrucks.“

Makhrous: „Mayar, habibti (Liebes), geh zu deinem Vater…ich meine Onkel, yallah (schnell). Hier ist es zu laut. Lasst uns mit der Geschichte weitermachen…Wir hatten gerade unsere letzten Klausuren in der Oberschule geschrieben, als der Sechstagekrieg ausbrach. Wir wurden gebeten, uns freiwillig zu melden und wurden bei den landwirtschaftlichen Nutzflächen stationiert. Plötzlich flog fast direkt über unseren Köpfen eine Flugzeugflotte; sie kamen aus Norden und flogen in Richtung Ägypten. Dann kamen bald die Panzer. Die Leute waren verwirrt. Die israelischen Panzer kamen mit irakischen Flaggen. Unser Nachbar ging hin um sie zu begrüßen. Er wurde erschossen. Wir wussten nicht, wie wir die Toten und Verletzten evakuieren sollten. Einen Mann legten wir auf einen Esel und hofften, einen Arzt zu finden.

Warum hatten die israelischen Panzer irakische Flaggen?

Es gibt einige Augenzeugenberichte aus dem Krieg von 1967, sowohl aus dem Gazastreifen als auch aus dem Westjordanland, dass auf israelischen Panzer entweder ägyptische oder irakische Flaggen prangten. Es war nicht das erste Mal, dass israelische Streitkräfte sich als ihre Feinde tarnten. Im Gegenteil. Seit dem Generalstreik 1936 war es eine beliebte Taktik, die häufig während der Intifadas genutzt wurde [Quelle: Kameel B. Nasser’s Arab and Israeli Terrorism: The Causes and Effects of Political Violence, Kapitel 3: Israel’s Use of Arab Disguises]. Im Jahr 1969 führte Israel eine ganze Militäraktion unter dem Codenamen Operation Raviv in Tarnung als Ägypter durch. In den vergangenen Jahren hat die israelische Polizei oft „mistaravim“ eingesetzt, Undercoveragenten die so tun, als seien sie palästinensische Demonstranten und deren Rolle es oft ist, für Eskalation zu sorgen.

Dalal: „Ich war damals 20 Jahre alt und noch nicht verheiratet. Ein Freund meines Vaters kam zu unserem Haus, er hatte einen Esel. Er sagte zu uns, er sei zu alt und müde um zu fliehen. Er bot uns den Esel an und sagte, wir sollen fliehen. „Mir ist es egal, ob sie mich umbringen oder nicht, ich kann nicht mehr“. Schließlich blieb er mit seinem Esel und wir flohen. Meine Mutter führte uns vom Haus weg und wir versteckten uns an der Küste. Zwei Tage lang wanderten wir, suchten nach Sicherheit, versteckten uns unter Guavenbäumen, während die Flugzeuge über unsere Köpfe flogen. Unsere Nachbarn flohen etwas später, holten uns aber ein. Sie sagten, unser Haus gebe es nicht mehr: Die Juden hätten es in die Luft gejagt. Als einzige Reaktion sagte meine Mutter „Gott helfe uns.“ Fünfzehn Tage lang versteckten wir uns an der Küste. Eines Tages hörten wir die Besatzer durch Megaphone sagen, es sei sicher zurückzugehen. Also kehrten wir zu unserem Haus zurück. Es war zerstört. Der alte Mann war tot. Jemand erzählte uns, dass der Esel zu schreien begann als die Armee kam, um das Haus in die Luft zu jagen, aber der alte Mann schlief und es weckte ihn nicht auf. Westlich von unserem Haus wuchsen zwei alte Orangenbäume. Wir konnten nirgendwo sonst hingehen. Wir saßen unter diesen Bäumen und warteten. Nach vier Tagen kamen die Söhne des alten Mannes, um ihn zu beerdigen.“

Der Sechstagekrieg endete damit, dass Israel große Gebiete einnahm. Es erklärte die militärische Besetzung der Halbinsel Sinai, des Gazastreifens und des Westjordanlandes, Ostjerusalems und der Golanhöhen. Die beiden letzteren wurden später annektiert.

Makhrous: „Ab diesem Zeitpunkt waren die Menschen davon abhängig, in Israel zu arbeiten, bis 1992, als sie Gaza abriegelten. Wie ich schon sagte, heirateten wir ein Jahr nach dem Krieg. Ich arbeitete in Israel, denn ich hatte eine Familie zu versorgen. Bis zur Intifada. Da begannen die Soldaten die Straßen abzusperren und machten es nach und nach immer schwieriger für uns, unsere Arbeitsplätze zu erreichen.“

In den frühen 1990er Jahren führte Israel die ersten Elemente der Abschottungspolitik ein, lange bevor die Hamas 2007 an die Macht kam. „Die Jahre der zweiten Intifada waren schwer. Keine Familie erlebte diese Zeit ohne Verluste. Mein tauber Neffe wurde getötet, und auch unser Nachbar. Viele kamen ins Gefängnis. Aber alles, was uns damals oder während anderer israelischer Angriffe erspart blieb, das holte uns 2014 erst recht ein.“

DER ISRAELISCHE ANGRIFF 2014

Am 8. Juli 2014 beginnt die israelische Offensive gegen den Gazastreifen. Zwei Wochen später, früh morgens, flieht die Familie Siyam aus ihrem Haus, vor den immer näher kommenden Geschossen. Gerade als sie alle ihr Haus verlassen und sich rennend in Sicherheit bringen wollen, werden sie aus der Luft angegriffen.

DAS HAUS

Zwei Kinder, die dreijährige Mayar und der noch jüngere Moataz machen viel Lärm, sie spielen mit der Glastür, die das Wohnzimmer von der Dachterrasse im Hause der Siyams trennt. Die Erwachsenen sind außergewöhnlich nachsichtig mit ihnen. Sie schimpfen nicht mit den Kindern, wenn diese nach Aufmerksamkeit verlangen, bekommen sie sie sofort. Mayars Spielkamerad, der laut weint, ist ihr anderthalbjähriger Cousin Moataz. Er war erst fünf Monate alt, als seine Mutter bei dem Angriff ums Leben kam. Mayar rennt plötzlich in das Zimmer und ruft ihre Großmutter, Dalal, „Mama“. „Was ist, mein Liebling?“ fragt Dalal aufmerksam? „Mayar versteht nicht, was geschehen ist“ erklärt Dalal.

Doch es scheint, als ob Mayar wenigstens ein bisschen versteht. Sie weinte viel, weinte und schrie. Sie rief nach „Mama und Baba“ (Mama und Papa), doch ihre Eltern konnten nicht zu ihr kommen um sie zu trösten. Manchmal, wenn sie durch das Haus rennt, wird Mayar auf ihre Fotos aufmerksam, die hoch an der Wand hängen, neben denen der anderen getöteten Familienmitglieder. Sie hält an, starrt und beginnt, vor sich hinzumurmeln, immer lauter, bis jemand kommt und sie hochhebt, damit sie ihre Eltern küssen kann.

EID

24. SEPTEMBER 2015

“Das ist die Lebensgeschichte des Muhtars Makhrous Siyam. Heute ist der dritte Tag des Opferfestes, also einen frohen Feiertag.”

„Ein junger Mann, frisch verheiratet kam zu mir und sagte: „ Es ist der dritte Tag des Opferfestes und ich habe noch immer kein Fleisch gegessen, in meinem Haus gibt es kein Fleisch.“ Wir versuchten zu helfen, das ist meine Rolle als Ältester. Aber dies ist das schwerste Opferfest, an das ich mich erinnern kann. Gestern habe ich zwischen zwei Familien vermittelt, die auf der Straße stritten. Wisst ihr weshalb? Wegen zehn Schekeln (2-3 Euro). Die Leute sind verzweifelter als je zuvor, besonders während des Opferfestes. Sie sind arm, ärmer als zuvor, und alles was man braucht, um das Opferfest zu feiern, ist so teuer geworden: Fleisch, und Kleider… Die Mehrheit der Familien in dieser Gegend kann es sich nicht mehr leisten, eine Ziege oder ein Schaf zu opfern. Doch es ist unsere Pflicht, mit ihnen zu teilen. In meiner Rolle als Muhtar habe ich mit einigen Organisationen zusammengearbeitet und wir haben 200 Portionen Fleisch gesammelt.“

Ein lautes Blöken unterbricht das Gespräch…

„Nach dem Ramadan kaufte ich meiner Frau zwei Lämmer und eine Ziege. Aber ich gehe mit ihnen spazieren und füttere sie oft. Wir gehen durch die Straßen der Nachbarschaft. Ich gehe voran und sie laufen mir hinterher.

Es ist spät, der Muezzin ruft zum Gebet und Makhrous will in die Moschee gehen. Er füttert die Ziegen und ruft uns ein Taxi. Wir warten, sprechen über die steigenden Preise für Fleisch, Benzin, Kleidung und all die Familienprobleme, die er als Muhtar lösen muss. Es ist dunkel, und die Elektrizität in Rafah wurde abgestellt. So ist es in Gaza: Sechs bis acht Stunden lang gibt es Strom, dann ist er für die nächsten sechs bis acht Stunden abgestellt. Draußen hupt es, der Taxifahrer teilt uns seine Ankunft mit. Wir verabschieden uns von Makhrous und Dalal. Als wir in das Auto steigen, erkenne ich den Fahrer und seine Stimme aus Anne Paqs Fotos und Videos. Sie hatte seine Familie ein Jahr zuvor kennengelernt.

Es ist Nabil. Schon drei Mal war ich bei den Siyams und noch nie habe ich ihn hier getroffen. „Es ist zu schwierig, zuhause zu sitzen“ erzählt er uns, während er raucht und das Taxi in Richtung Gaza Stadt lenkt – alles mit seiner verbleibenden Hand.

Menschen, die bei dem Angriff in Rafah ums Leben kamen

21 Juli 2014

  • KAMAL MAKHROUS SIYAM
    31, SOHN VON DALAL UND MAKHROUS
  • MOHAMMED MAKHROUS SIYAM
    27, SOHN VON DALAL UND MAKHROUS
  • SUMOUD NASSER MUSTAFA SIYAM
    26, MOHAMMMEDS EHEFRAU
  • MOIN MOHAMMED SIYAM
    5, MOHAMMEDS SOHN. ER STARB AM TAG NACH DEM ANGRIFF
  • SHIRIN MOHAMMED SIYAM
    31, NABILS EHEFRAU, DALAS UND MAKHROUS SCHWIEGERTOCHTER
  • GHAIDAA’ NABIL SIYAM
    7, NABIL UND SHIRINS TOCHTER
  • MUSTAFA NABIL SIYAM
    9, NABIL UND SHIRINS SOHN
  • ABDEL RAHMAN NABIL SIYAM
    6, NABIL UND SHIRINS SOHN
  • DALAL NABIL SIYAM
    9 MONATE, NABIL UND SHIRINS TOCHTER
  • SAIDA HASSAN SIYAM
    42, SCHWIEGERTOCHTER VON DALAL UND MAKHROUS, EHEFRAU VON AYMAN; SIE STARB AM 14. AUGUST 2014 AN IHREN VERLETZUNGEN
  • AMIN AYMAN MAKHROUS SIYAM
    17, SAIDAS UND AYMANS SOHN
  • AHMED AYMAN MAKHROUS SIYAM
    15, SAIDAS UND AYMANS SOHN
  • MOHAMMED AMIN SIYAM
    15, DALAS UND MAKHROUS ENKEL; ER STARB AM 18. NOVEMBER 2014 IN DER TÜRKEI AN SEINEN VERLETZUNGEN